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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Darwinismus

wirkt auch die kleinste Eigentümlichkeit der in denselben verflochtenen Individuen; jede kleinste Abänderung stört das Gleichgewicht der gegeneinander strebenden Kräfte, und die Organismen passen sich einander sowie den äußern Verhältnissen fortwährend an, wiewohl bei der Länge der für die Umprägung erforderlichen Zeit die Thatsache dieser Umprägung sich nicht ohne weiteres zu erkennen giebt. Nach sehr zahlreichen Generationen kann die Abweichung von der Urform eine hundertfach und tausendfach gehäufte geworden und durch die anfänglich ganz unmerkliche Abänderung eine Abart, eine wirkliche Art, ja eine neue Gattung, eine neue Ordnung oder Klasse von Organismen entstanden sein, mindestens liegt keine natürliche Ursache und kein logischer Grund vor, anzunehmen, daß das Maß der langsamen Abänderung irgendwo innerhalb der Existenzmöglichkeit der Grundsubstanz organischen Lebens, des Eiweißes, eine Grenze finde.

Eine wichtige Triebfeder für die Bildung neuer Formen liegt in der Art des Gebrauchs der einzelnen Organe. Diese letztern werden durch den je nach den äußern Lebensbedingungen abgeänderten Gebrauch gleichfalls verändert, weiter entwickelt, vervollkommnet; andere gehen durch Nichtgebrauch zurück und verkümmern. Vögel oceanischer, von nachstellenden Feinden freier Inseln, welche nicht zu fliegen nötig haben, besitzen verkümmerte Flügel; schon bei der Hausente, die wenig fliegt, sind die Flügelknochen leichter, die Beinknochen schwerer im Verhältnis zum ganzen Skelett als bei der wilden Ente. Tiere, die in ewiger Nacht leben, sind ohne Augen, bei Höhlenbewohnern sind sie verkleinert (Maulwurf), oder sie liegen unter der Haut verborgen (z. B. beim Olm, Proteus anguineus Laur.). Aus der Verschiedenheit des Gebrauchs erklärt Darwin die Verwandlung der vordern, überall mit wesentlich den nämlichen Knochen ausgestatteten Gliedmaßen bald zum Grabfuße des Maulwurfs, zum Rennfuße des Pferdes, zur Ruderflosse, zum Flügel, zur Hand, und m der That sind diese Homologien bei Annahme jedesmaliger Neuschöpfung der einzelnen Tiergattungen schlechthin unbegreiflich, bei Annahme der Descendenztheorie völlig verständlich. Die Schwimmblase, ein Hilfsapparat für die Bewegung der Fische, welche bereits bei den Lurchfischen acccssorisches Atmungsorgan ist, modifiziert sich zur Lunge der höhern Wirbeltiere. (S. Funktionswechsel.) Und selbst für die zusammengesetztesten Organe, z. B. für das Auge, behauptet Darwin die Möglichkeit der allmählichen Entwicklung aus unvollkommensten ersten Anfängen, unter dem Einflüsse der natürlichen Zuchtwahl. Aber nicht nur die äußere Form, auch das, was man als Seele zu bezeichnen pflegt, die intellektuellen Fähigkeiten und Instinkte der Tiere, werden nach Darwin durch Zuchtwahl abgeändert, wie dies dem Tierzüchter sehr wohl bekannt ist. (S. Erblichkeit.)

Eine Abänderung des Tier- und Pflanzenkörpers, die in einer bestimmten Gegend, Lage, Gesellschaft u. s. f. nützlich ist, kann unter andern Verhältnissen schädlich sein; nicht immer erweist sich eine höhere Entwicklung für die Geschöpfe nützlich. So tritt auf gewissen Inseln die Zahl der geflügelten Insekten gegen die flügellosen auffällig zurück: die geflügelten fallen, wenn sie zu fliegen wagen, in großer Zahl ins Meer und verkommen, diejenigen, welche keine Flugorgane besitzen oder, falls sie deren haben, keinen Gebrauch von ihnen machen, können sich erhalten und vermehren. Die Flügel erscheinen hier

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als ein schädliches Organ und wurden deshalb da, wo sie vorhanden waren, durch Nichtgebrauch nach und nach ausgemerzt, und die Fauna zeigt schließlich vorzugsweise flügellose Tiere.

Eine besondere Form der Zuchtwahl ist die geschlechtliche (sexual selection). Bei denjenigen Tieren, deren Männchen miteinander um die Weibchen kämpfen, bleiben die stärkern Männchen Sieger und ihnen fällt die Fortpflanzung der Gattung zu; sie vererben ihre Stärke auf die männliche Nachkommenschaft. Hieraus erklärt Darwin die ansehnliche Größe der Männchen bei vielen Tieren und ihre Ausstattung mit Schutz- und Trutzwaffen (Löwe mit Mähne, Stier mit mächtigem Nacken, Hirsch mit Geweih, Eber mit Hauzahn, Hahn mit besporntem Fuß). Die Männchen vieler Tiere wirken auch durch musikalische Leistung (Vögel, Frösche, Grillen u. s. w.), durch Farbenpracht (Vögel, Insekten), durch Gerüche (besonders Säugetiere), durch Tänze (Vögel) u. s. w. auf die Sinne (Auge, Ohr, Geruch) und damit auf die Sinnlichkeit der Weibchen, sodaß das in dieser Hinsicht am besten ausgestattete Männchen die meisten Chancen der Fortpflanzung und damit für Vererbung seiner Eigenschaften hat.

Eine wichtige Stütze für seine Lehre findet Darwin in den Erscheinungen der Entwicklungsgeschichte. Vielfach durchläuft ein und dasselbe Tier dieselben Entwicklungsstufen (Metamorphosen), welche nach Darwin die Tiergattungen bei ihrer Entstehung aus tiefer stehenden Ordnungen und Klassen zu durchlaufen hatten. Der Frosch in seinem Bildungsgange von der Kaulquappe mit Kiemenatmung und Ruderschwanz bis zum entwickelten Tiere mit Lungenatmung stellt fast die ganze Reihe der definitiven Formen dar, welcke sich in der Ordnung der Batrachier überhaupt vorfinden, und es ist ein Lehrsatz der Darwinianer, daß die Natur bei der Schaffung von Gattungen, Ordnungen, Klassen, denselben Gang einschlage, welchen sie bei der Entwicklung des einzelnen Tiers aus seinem Ei verfolgt. Embryonen sehr verschiedener Tierarten sind in den frühern Entwicklungsstadien einander gleich oder sehr ähnlich; Organe, welche im reifen Zustande des Tiers sehr verschieden gebildet sind und ganz verschiedenen Leistungen dienen, sind in der embryonalen Zeit einander völlig gleich. In derselben Weise, wie sie an demselben Individuum in seinen verschiedenen Entwicklungsepochen sich verwandeln, so bei den Individuen verschiedener Generationen, und hierdurch vollzieht sich die Bildung der verschiedenen Klassen. Hierauf beruht das Biogenetische Grundgesetz (s. d.). Eine fernere Stütze findet Darwin in gewissen Erscheinungen der Vererbung im Atavismus oder im Rückschlag, dem plötzlichen Wiederauftauchen von Eigentümlichkeiten fernster Ahnen, welche in der Descendenz verschwunden waren, z. B. das Auftreten von Streifenbildungen am Rücken des Pferdes, doppelten Schulterstreifen, sowie Querbinden an den Beinen des Esels, denen des Zebras ähnlich, als Erbteil eines gemeinsamen Stammvaters der Pferdesippe, welcher gestreift war.

Untersucht man die organischen Reste sehr alter Versteinerungen führender Schichten, so findet man nur wenige und sehr einfache Formen von Pflanzen und Tieren. Die Theorie Darwins nimmt an, daß aus solchen die höhern Formen mit allmählicher Steigerung der Mannigfaltigkeit der Organisation entstanden sind. Diese allmähliche Entstehung und