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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 1888 bis zur Gegenwart)

bürgschaft hinzu: die Erneuerung des deutsch-österr.-ital. Bündnisses, das dem Reiche im Fall eines franz. Angriffes die Hilfe Italiens zusicherte.

Im Auslande trat infolge der einmütigen Annahme der Militärvorlage bald eine allmähliche Abnahme der Kriegsgefahr ein. In den Sturz des Ministeriums Goblet in Paris (17. Mai) wurde auch der revanchedürstende Boulanger verwickelt. Jetzt konnte die Reichsregierung auch gegen Rußland, wo eben dem Grundbesitze von Ausländern in den westl. Provinzen eine an Vernichtung grenzende Schädigung zugefügt war, einen Streich führen. Warnungen der offiziösen Presse vor russ. Staatspapieren, von denen sich ein überaus großer Teil in deutschen Händen befand, führten zu massenhaftem Verkaufe und schnellem Kursfalle derselben. Das Erscheinen Crispis, des neuen Leiters der ital. Politik, in Friedrichsruh beim Reichskanzler (Anfang Oktober), kurz nach dem Besuch Kalnokys, bezeugte demonstrativ, daß der Ministerwechsel in Italien kurz nach Abschluß des Bündnisses keinerlei Wechsel der Politik herbeigeführt hatte.

So stand Deutschland militärisch und politisch gerüstet da, als 18. Nov. der Zar, auf der Rückreise von Kopenhagen zum Landwege gezwungen, in Berlin eintraf. Acht Tage zuvor hatten die Reichsbank und die preuß. Seehandlung bekannt gemacht, daß sie fernerhin keine russ. Papiere mehr beleihen würden. Bei einer Unterredung Bismarcks mit dem Kaiser Alexander kam nun eine höchst gefährliche Intrigue einer zum Kriege gegen Deutschland schürenden Partei zu Tage. Der Zar wies dem Reichskanzler Schriftstücke vor, welche die Ehrlichkeit der deutschen Politik in der bulgar. Frage auf das schwerste kompromittierten. Bismarck konnte sie mit Leichtigkeit als Fälschung nachweisen. Seine offene und entschiedene Rechtfertigung blieb nicht ohne Eindruck auf den Zaren, aber die ruß. Truppenverstärkungen an der Westgrenze dauerten fort.

Ein großer Zug ging durch alle Handlungen der Regierung und riß schließlich auch die Parteien mit sich, die vorher um das Septennat so bitter gehadert hatten. Als eine Summe von 176 Mill. M. gefordert wurde für Erweiterung der strategischen Eisenbahnen, Festungsbauten und andere, zum Teil geheim gehaltene militär. Zwecke, bewilligte sie der Reichstag 20. Mai 1887 nur gegen die Stimmen der Socialdemokraten. Noch bedeutender und mit noch größern Opfern verbunden war die 16. Dez. 1887 dem Reichstage zugehende Wehrgesetzvorlage, deren Ziel es war, daß Deutschland auch ohne Bundesgenossen nach Osten und Westen zugleich dem Gegner gewachsen dastehe. Die Centrumspartei beantragte die En bloc-Annahme des Gesetzes, welches die Landwehr 2. Aufgebotes vom 32. bis 39. Lebensjahr erneuerte und damit 7 Jahrgänge gedienter Mannschaften unmittelbar kriegsbereit stellte, außerdem auch noch den Landsturm bis zum 45. Jahre ausdehnte.

Mit dem neuen Reichstage gelang es nun auch endlich, dem Reiche neue Einnahmequellen, die schon durch die vermehrten Heereslasten dringend erfordert wurden, zu erschließen. Mit großer Mehrheit (233 gegen 80 Stimmen) kam 17. Juni 1887 ein Branntweinsteuergesetz zu stande, von dem man sich eine, später allerdings hinter der Erwartung zurückbleibende Einnahme von 100 Mill. M. versprach. (S. Branntweinsteuer, Bd. 3, S. 429.) Auch die Erträge der Zuckersteuer wurden durch Einführung einer Konsumsteuer auf etwa 40 Mill. M. gesteigert (16. Juni). Die Zusammensetzung des Reichstags (Kartellreichstag, wie ihn die Gegner spottend nannten) brachte es mit sich, daß die Wünsche der Landwirtschaft jetzt stärker berücksichtigt wurden. Ein Kunstbuttergesetz wurde 20. Mai angenommen, das die Fälschungen der Naturbutter mit den aus tierischem Fett hergestellten Produkten und die Mischungen beider mit Strafe belegte. Mit Hilfe des dadurch wieder zum Einfluß gelangenden Centrums wurde 17. Dez. 1887 eine durch das fortdauernde Sinken der Preise begründete Erhöhung der Getreidezölle durchgesetzt.

Bei den Verhandlungen über die Verlängerung des Socialistengesetzes im Jan. 1888 forderte die Regierung erhebliche Verschärfungen, die bis zu dem Rechte der Entziehung der Staatsangehörigkeit gingen. Darauf ging der Reichstag nicht ein; er gewährte auch nur auf 2 Jahre die Verlängerung des im übrigen unveränderten Gesetzes (bis 30. Sept. 1890). Die socialpolit. Gesetzgebung wurde 1887 noch durch die Ausdehnung der Unfallversicherung auf die Seeleute und das Baugewerbe gefördert. Große Freude bereitete dem Kaiser noch zuletzt die einmütige Annahme des neuen Wehrgesetzes (10. Febr. 1888). Seit 4. März 1888 begann er zu kränkeln und starb am Morgen des 9. März, während der Kronprinz, der seit 1887 an unheilbarem Kehlkopfkrebs erkrankt war, in San Remo weilte.

10) Von der Thronbesteigung Kaiser Friedrichs (1888) bis zur Gegenwart. In der Trauer über den Hingang Kaiser Wilhelms schienen die Schranken der Nationalität zu fallen. Niemals hat ein ähnliches Ereignis eine gleich tiefe Bewegung in der ganzen Welt hervorgerufen. Den Tod vor Augen, eilte Kaiser Friedrich III. über die Alpen nach der Heimat. Erfüllt von seiner hohen Aufgabe, drängte es ihn, seinem Volke wenigstens das Ziel hinzustellen, das er sich für seine Regierungsthätigkeit gestellt hatte. Eine Ansprache "An mein Volk" und ein Erlaß an den Reichskanzler vom 12. März 1888 zeigten, mit welcher sittlichen Wärme und Humanität er seine Thätigkeit erfüllt wissen wollte. Auf seine liberalen und toleranten Grundanschauungen setzte namentlich die freisinnige Partei große Hoffnungen. Er selbst zeigte in diesem durch die Krankheit gebeugten Zustande sehr bald, daß er dem Staatswohle auch persönliche Wünsche opfern könnte. Die geplante Verlobung seiner Tochter, der Prinzessin Victoria, mit dem Prinzen Alexander von Battenberg, der vor dem Hasse Rußlands den bulgar. Thron hatte räumen müssen, gab er auf, als ihm Bismarck mit Rücksicht auf das polit. Verhältnis zu Rußland eindringlich davon abriet. Ein Anfang Februar von den Kartellparteien im Reichstage eingebrachter und daselbst angenommener Antrag, die Legislaturperioden aus 5 Jahre zu verlängern, erhielt 19. März die Genehmigung des Kaisers. Das bedeutsamste Ereignis seiner Regierung, die Entlassung des Ministers von Puttkamer (8. Juni), fällt in das Gebiet der preuß. Geschichte. Am 15. Juni - also nach einer Regierung von 99 Tagen - erlöste der Tod Kaiser Friedrich von seinem qualvollen, heldenmütig getragenen Leiden.

Ein jugendkräftiger, energischer, voll festen Mutes an seine Aufgabe herantretender Herrscher bestieg nun in seinem Sohne Wilhelm II. den Thron. Die Meinung, daß ihn kriegerischer Ehrgeiz und Ruhmsucht erfülle, hatte er schon zu Lebzeiten des