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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich (Geschichte 1888 bis zur Gegenwart)

Großvaters öffentlich zurückgewiesen. Redeten auch seine ersten Erlasse an die Armee und die Marine vom 15. Juni die Sprache des Soldaten, so war doch die Proklamation "An mein Volk" vom 18. Juni und vor allem die Thronrede zur Eröffnung des Reichstags, die er 25. Juni, umgeben von 22 deutschen Fürsten, hielt, erfüllt von den Gedanken friedlicher Arbeit im Innern, zumal auf socialem Gebiete. Das von ihm dabei entwickelte Programm der auswärtigen Politik: treues Festhalten an dem Bündnisse mit Österreich und Italien, aber dabei Pflege der persönlichen Freundschaft und friedlichen Beziehungen mit dem Kaiser von Rußland führte er in seiner frischen und eigenartigen Weise sofort aus. An der Spitze eines Flottengeschwaders stattete er (19. bis 24. Juli) dem Zaren in Kronstadt und Petersburg den ersten Besuch ab. Auf der Rückreise knüpfte er in Stockholm und Kopenhagen persönliche Beziehungen an, die, namentlich was Dänemark betraf, politisch nicht wertlos waren. Einen wärmern Charakter trugen von vornherein die Besuche des Kaisers in Stuttgart (27. Sept.), München (1. Okt.), Wien (3. Okt.) und zumal in Rom (Mitte Oktober), wo ihm die Bevölkerung einen enthusiastischen Empfang bereitete.

Etwas kühl schien im Beginn das Verhältnis der neuen Regierung zu England zu sein, und mancherlei Vorurteile herrschten in England gegen den jungen Kaiser. Sein Besuch am engl. Hofe (Aug. 1889) zerstreute sie völlig, und es trat sichtlich das Bestreben der deutschen Regierung hervor, England in das Interesse des Dreibundes zu ziehen. Eine erwünschte Gelegenheit zum Zusammengehen mit England bot schon der ostafrik. Aufstand. Die beiden Mächte verpflichteten sich (Nov. 1888) zu gemeinschaftlicher Bekämpfung des Sklavenhandels durch eine Blockade der Küste. Der Reichstag bewilligte 30. Jan. 1889 2 Mill. für ein Vorgehen in Ostafrika, unter lebhafter Mitwirkung des Centrums, das durch die Idee der Bekämpfung des Sklavenhandels gewonnen war. Der Afrikareisende Hauptmann Wißmann wurde nun als Reichskommissar nach Afrika entsandt, bildete sich mit Hilfe deutscher Offiziere und Unteroffiziere aus Eingeborenen Afrikas eine kriegstüchtige Truppe und warf in einer Reihe von Gefechten und Belagerungen den Aufstand nieder. (S. Deutsch-Ostafrika.) Im Mai 1890 war das ganze Küstengebiet wieder in den Händen der Deutschen. Ungünstiger für Deutschland verlief ein Konflikt mit den Eingeborenen auf Samoa, wo die rivalisierenden Interessen Deutschlands, Englands und Amerikas ein entschiedenes Vorgehen sehr erschwerten. Die von deutschen Kriegsschiffen gelandeten Mannschaften erlitten 18. Dez. 1888 schwere Verluste. Die von Deutschland berufene Samoakonferenz (April und Mai 1890) führte zu einem Abkommen mit England und den Vereinigten Staaten, das aber auch keinen auf die Dauer erträglichen Zustand auf den Inseln begründete.

Ein wenig erquicklicher Zwischenfall rührte im Herbste 1888 noch einmal die trüben Gegensätze auf, die während der Regierungszeit Kaiser Friedrichs hervorgetreten waren. Eine ihre Spitze gegen die Bismarcksche Politik kehrende Veröffentlichung aus dem kronprinzlichen Kriegstagebuche von 1870/71 in dem Oktoberhefte der "Deutschen Rundschau" veranlaßte Bismarck zu einem Immediatbericht (vom 23. Sept.), der, von der Voraussetzung der Unechtheit ausgehend, den Kronprinzen schonungslos bloßstellte in dem Falle, daß das Tagebuch echt wäre. Letzteres kann jetzt keinem Zweifel mehr unterliegen. Professor Geffcken (s. d.), der Veröffentlicher, wurde 30. Sept. verhaftet und des Landesverrats angeklagt, aber 5. Jan. 1889 wieder entlassen, da das Reichsgericht nicht zu der Überzeugung gelangen konnte, daß er sich der Tragweite seiner Handlungsweise bewußt gewesen sei. Wenigstens setzte Bismarck nun die Veröffentlichung der Anklageschrift gegen Geffcken durch. Andererseits gab auch der Kaiser persönlich einer Deputation der Stadt Berlin gegenüber (28. Okt. 1888) seinen Unwillen über die Haltung der freisinnigen Presse in dieser Angelegenheit Ausdruck.

Auch in der auswärtigen Politik spielte sich bald danach ein unangenehmer Zwischenfall ab. Die Polizei des Kantons Aargau verhaftete 21. April 1889 den deutschen Polizeikommissar Wohlgemuth, der über die Grenze gekommen war, um Informationen über das Treiben der Socialdemokratie einzusammeln. Sie legte ihm zur Last, als agent provocateur gewirkt zu haben, und ließ ihn erst nach 10 Tagen frei. Die deutsche Regierung beschwerte sich nun umgekehrt über die Duldung socialdemokratischer und anarchistischer Wühlereien seitens der Schweizer Behörden und kündigte, als Verbandlungen erfolglos waren, den deutsch-schweiz. Niederlaßungsvertrag. Nicht ohne polit. Bedeutung war es, daß auch Rußland, durch die Interessengemeinschaft veranlaßt, in diesem Punkte mit Deutschland zusammenstand und dessen Vorstellungen bei der Schweizer Regierung unterstützte.

Im Innern wurde nun zunächst nach mühsamen Vorarbeiten und schwierigen Verhandlungen das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz (s. d.) erledigt. Die ungeheuren Schwierigkeiten dieses über 12 Mill. Arbeiter sich erstreckenden, tief in alle wirtschaftliche Verhältnisse eingreifenden und in seiner künftigen Entwicklung kaum zu übersehenden Unternehmens schreckten viele von denen ab, die im Princip dem Gesetz zustimmten, und fast alle Parteien spalteten sich bei der Schlußabstimmung (24. Mai 1889); die Annahme erfolgte mit 185 gegen 165 Stimmen. In Wirksamkeit trat das Gesetz (vom 22. Juni 1889) mit dem 1. Jan. 1891. Lediglich der besondere Wunsch des Kaisers hatte manche veranlaßt, ihre Bedenken gegen das Gesetz zu überwinden. Dieses persönliche Eintreten des jungen Herrschers in der socialen Frage war etwas ganz Neues und bei der frischen Energie, mit der es geschah, höchst Eindrucksvolles. Es zeigte sich namentlich bei dem großen Bergarbeiterstreik 1889, wo der Kaiser eine ihre Beschwerden vortragende Deputation der westfäl. Bergarbeiter wohlwollend empfing und darauf die Vertreter der Grubenbesitzer ermahnte, möglichst nahe Fühlung mit den Arbeitern zu suchen.

Die Socialdemokratie, obgleich ursprünglich der Bewegung fremd, gewann doch unter der Bergarbeiterschaft nun nicht unbeträchtlich an Boden. Mit Besorgnis sah man den für den 20. Febr. 1890 anberaumten Reichstagswahlen entgegen. Da brachte der 4. Febr. 1890 zwei Erlasse des Kaisers an den Reichskanzler und an die Minister für öffentliche Arbeiten und für Handel und Gewerbe, die als Weiterführung der kaiserl. Botschaft von 1881 das Eintreten des Staates für alle diejenigen Fragen verhießen, deren Lösungsbedürftigkeit die großen Streike von 1889 erwiesen hatten. Es wurde als