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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Dionysos
auch Wahnsinn sendenden Gottheit <s. Lykurgos) I
erfüllt zu sein glaubt. Daher knüpft sich ein großer
Teil der ihm zu Ebren gefeierten Feste, namentlich !
in Attika, an Weinbau und Weinbereitung-, so an
den Genuß des neuen Weins nach Vollendung der
Weinlese und des Kelterns die ländlichen Dio-
nysien in den attischen Demen im attischen Monat ^
Poseideon (der ungefähr unserm Dezember ent-
spricht); dann in der Stadt Athen das Fest Lenaia
(s.d.), d. h. das Kelterfest; an den Anfang des Ver-
zapfens des sausgegorenen) Weins in Athen das
Fest Anthesteria, d. i. Blumenfest, vom 11. bis
13. des Monats Anthesterion (vom 7. Febr. bis
8. März); der erste Tag dieses Festes hieß Pitboigia,
der zweite Choes, der letzte Chytroi. Auch die Sagen
von der Einkehr des Gottes bei Omens in Ätolien
und bei Ikarios in Attika, die er mit dem Weinstock
beschenkte, die Auffassung des Gottes als des Sor-
genbrechers und Befreiers überhaupt, sowie die
Sagen von seinen weiten Wanderzügen, auf denen
er, umgeben von Satyrn, Silenen und schwärmerisch
begeisterten weiblichen Wesen (Mänaden und Thyia-
den), alle Länder, in denen der Weinstock gedeiht, als
Eroberer durchzieht, knüpfen an die specielle Bedeu-
tung des D. als Weingottes an. Diese Sagen
wurden besonders seit der Eroberung des Orients
durch Alexander d. Gr. weiter ausgebildet, indem
man den Gott als Eroberer Indiens zum Vorbilde
des großen Eroberers machte.
D. ist ein Sohn des Himmelsgottes und der
von ihrem Gemahl im Gewitterregen befruchteten
Erdgöttin. Die poetisch umgebildete Sage machte
ihn dann zum Sohne der theban. Königstochter
Semele, welche ihn vom Götterkönig Zeus empfing,
aber, da sie, durch den hinterlistigen Rat der
Hera verleitet, den Zeus veranlaßte, in seiner gött-
lichen Majestät, unter Blitz und Donner, sich ibr
zu nahen, noch vor der Geburt des Kindes den
Tod fand. Zeus selbst soll hierauf die noch unreife
Frucht in seine Hüfte verschlossen haben und das
nach erlangter Reife gewissermaßen zum zweitenmal
geborene Kind (wovon man dann auch den Bei-
namen des Gottes, Dithyrambos ss. d.^, ableiten
wollte)durch denGötterbotcn Hermes den Nymphen,
d. h. den Göttinnen der Leben und Wachstum ver-
anlassenden Feuchtigkeit, zur Pflege und Erziehung
übergeben haben. Dann aber wird D. auch Sohn
des Zeus und der Demetcr oder der Perseplwne ge-
nannt, in deren Geheimdienst (den sog. Mnsterien)
in Eleusis er als Knabe oder halbwüchsiger Jüng-
ling erscheint und nach den: in seinem Dienst aus-
gestoßenen Iubelruf unter dem Namen Iakchos,
was mit Bakchos lautlich gleich ist, angerufen wird.
Die Orphiker nannten D. Zagreus und bildeten
auch die Mythen vom Tode des Gottes und seiner
Rückkehr ins Leben in mystischer Weise aus und
um. Sie erzählten, daß Zagreus von den Titanen
zerrissen, dann aber D., da Zeus das Herz ver-
schlungen oder der Semele gegeben habe, von neuem
zur Welt gekommen sei.
Ursprünglich liegt den Sagen vom Leiden und
Sterben des Gottes und seiner Rückkehr ins Leben
zunächst das Werden und Vergehen der Vegetation
im Laufe des Jahres zu Grunde. In Delphi zeigte
man im Allerhciligsten(Adyton) des Apollontempels
das Grab des D., aber zur Zeit des kürzesten
Tages wurde bei Nachtzeit von den auf dem Parnaß
schwärmenden Chören der Tbviaden der tote Knabe
wieder zum Leben zurückgerufen, ähnliche nächt-
liche Feste wurden alle zwei Jahre auch in andern
Teilen Griechenlands dem Gotte zu Ehren von
Frauen gefeiert, so in Orchomenos die Agrionia
(s. d.) und auf dem böot. Gebirge Kithäron. Hier
sollte der theban. König Pentheus zur Strafe dafür,
daß er den Gott verfolgt, von den von bacchischer
Raserei ergriffenen Weibern, die ihn für ein Tier
hielten - seine eigene Mutter befand sich unter
ihnen -^, zerrissen worden sein. Dieser Orgiasmus
im Dionysosdienst beruht auf einer auch in nord-
europ. Kultbräuchen hervortretenden Vorstellung.
Im Frübjahr suchte man nämlich die im Winter-
schlaf ruhenden Vegetationsgeister dadurch zu er-
wecken, daß man in der ihnen zugeschriebenen Ge-
stalt und Trackt auf den Feldern umherraste, wobei
das Toben und Lärmen wohl einerseits ein Aus-
druck des energischen Lebens im Gegensatz zur Win-
terrube und andererseits ein solcher der Freude über
das Wiedererwachen der Fruchtbarkeitsdämonen ist,
zunächst aber den Zweck hat, diese selbst aus ihrem
Schlafe zu erwecken. Für die erbetene junge Vege-
tation wurde aber gewissermaßen stellvertretend ur-
sprünglich ein Kinderopfer dargebracht, und zwar
wurde offenbar das Fleisch dieses Kindes ebenso wie
nachmals das der zerrissenen jungen Tiere von den
Mänaden, welche selbst die durch das Opfer ver-
söhnten Wachstumsgeister darstellen (vgl. den vio-
u?803 0M68t68, d. h. den rohes Fleisch verzehren-
den D.), roh verschlungen. Roh aber verschlangen
sie die Stücke, um so im Fleisch und Blut, welches
als der eigentliche Lebensträger betrachtet wird, die
Kraft des Fruchtbarkeitsgenius, der nun anch um-
gekehrt selbst in dem geopferten Kinde oder jungen
Tiere als das zerrissene Dionysoskind (Zagreus) er-
scheint, möglichst ungeschwächt in sich aufzunehmen.
Doch scheint es, daß diese orgiastische Raserei in
Griechenland schon früh eingedämmt worden ist. Hier
klärte sich der dionysischeTaumel zu dem schönen künst-
lerischen Enthusiasmus ab, in welchem sich die Ver-
ehrung des D. zuletzt mit der apollinischen Begeiste-
rung begegnete, und der gleich dieser ein Quell frei-
lich etwas anders gearteter, mehr leidenschaftlich er-
regter künstlerischer und poet. Schöpfungen wurde.
Anfänglich wurde der Wachstumsgeist selbst stier-
oder bockgestaltig vorgestellt und in den Satyrn,
wclche später zu Begleitern des Gottes werden,
vervielfacht. Sein Symbol ist der Phallus (das
männliche Glied), der an vielen Orten bei seinen
Festen in Prozession umhergetragen wurde. Aus
den bei dieser Gelegenheit gesungenen Liedern voll
derber Obszönität und lustigen Spottes entwickelte
sick allmählich die Kunstform der Komödie, d. h. der
Gesang des Komos, des dionysischen Festzuges,
während die andere Gattung der dramat. Poesie,
die Tragödie mit ibrem heitern Nachspiele, dem Sa-
tyrdrama, aus den, wie der Gott selbst, Dithyram-
bos genannten Chorliedern, in welchen als Satyrn,
d. b. als Böcke (ti-a^oi) verkleidete Männer des
Gottes Thaten und Leiden feierten, hervorgegangen
ist. Es geschah dies in Attika, wo namentlich das
Frühlingsfest des Gottes in Athen unter dem
Namen der großen oder städtischen Dionysien etwa
vom 9. bis 14. des Monats Elaphebolion (März),
außer mit festlichen Aufzügen, Gefangen u. s. w.,
mit dramat. Aufführungen gefeiert wurde. Auf
der durch ibren Weinbau berühmten Insel Naxos,
wo der Sage nach D. die von ihrem frühern Ge-
liebten Theseus verlassene Ariadne, während sie am
Gestade schlief, überraschte und dann unter lautem