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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Frankreich (Geschichte 1789-95)

die Feudalen, die königl. Prinzen an der Spitze, die Auswanderung begannen. In der Nacht des 4. Aug. hob die Nationalversammlung alle Feudalrechte und persönlichen Lasten auf und ließ darauf die Erklärung der Menschenrechte folgen. Die widerstrebende Haltung des Königs gegen diese Artikel, mehr jedoch die vom Herzog Ludwig Philipp von Orléans beförderten Aufhetzungen und die Furcht der Massen vor der Hungersnot führten zu einem neuen Ausbruche in Paris und 5. Okt. zu dem Zuge großer Volkshaufen nach Versailles, durch die der König und die königl. Familie gezwungen wurden, sich 6. Okt. nach Paris zu begeben, wohin auch die Nationalversammlung bald ihren Sitz verlegte. Diese begann nun im November eine neue Organisation des Landes. Die alten Provinzen wurden durch 83 Departements ersetzt, die in Distrikte und Kantone zerfielen; die Wahl der Verwaltungsräte vollzogen alle aktiven, den Wert dreier Arbeitstage steuernden Bürger. Dieselben wählten auch die Wähler und diese die Deputierten zur Nationalversammlung. Jedes Departement erhielt einen Civil- und einen Kriminalgerichtshof, jeder Kanton ein Friedensgericht. Um dem Klerus den Einfluß abzuschneiden und der Finanznot abzuhelfen, konfiszierte die Versammlung 2. Nov. das sämtliche Kirchengut, was bald darauf zur Schaffung der Assignaten (s. d.) führte. Eine neue Verfassung des Klerus, die Aufhebung der geistlichen und weltlichen Orden, Korporationen und Titel vollendeten die Auflösung des alten Staates.

Unter diesen Wirren beschworen 14. Juli 1790, am Jahrestage der Erstürmung der Bastille, der König, die Staatsgewalten und die Deputierten die neuen Verfassungsgesetze. Zwei Drittel des Klerus verweigerten jedoch den Bürgereid; die polit. Klubs, besonders die Jakobiner, erhitzten die Köpfe und regten die Massen auf; die Nationalversammlung selbst war in Konstitutionelle, Republikaner und Anhänger des Hofs gespalten. Am 2. April 1791 starb Mirabeau, der einzige Charakter, der den Thron gegen Männer wie Robespierre, Marat, Danton vielleicht hätte aufrecht erhalten können. Zugleich nahm die Auswanderung des Adels überhand. (S. Emigranten.) Der Prinz von Condé bildete zu Worms, der Graf Artois zu Koblenz ein Emigrantenkorps. Als auch Ludwig XVI. in der Nacht vom 20. Juni mit seiner Familie einen Fluchtversuch machte, wurde er 22. zu Varennes verhaftet und nach Paris zurückgeführt. Die Nationalversammlung hatte unterdessen nicht versäumt, auch die ausübende Gewalt an sich zu nehmen; sie suspendierte den König vorläufig und setzte eine Untersuchungskommission ein. Die republikanische Partei, darunter Robespierre, Pétion, Desmoulins und Danton, arbeitete nun an der Absetzung des Königs, der schon vollkommen willenlos 14. Sept. 1791 das Werk der Konstituante, die neue Verfassung, beschwor.

Inzwischen regte sich das Ausland zu Gunsten des franz. Königtums. Friedrich Wilhelm II. von Preußen unterschrieb zu Pillnitz 27. Aug. 1791 mit Kaiser Leopold II. eine Deklaration, die zwar noch keine Kriegserklärung war, aber doch weitere königsfeindliche Fortschritte der Revolution bedrohte.

Die Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung, die alle Mitglieder der 30. Sept. aufgelösten Nationalversammlung ausschlossen, brachten vorwiegend Demokraten ans Ruder. Die Versammlung begann 1. Okt. 1791 ihre Sitzungen. Die Führung hatten die Girondisten, die damals noch eng mit den Radikalen, wie Danton, Robespierre und selbst Marat, verbündet und mit ihnen im Jakobinerklub vereinigt waren. Sie rissen sofort die Versammlung zu scharfen Dekreten gegen die eidverweigernden Priester und die Emigranten hin, denen der König sein Veto entgegensetzte. Die Antwort der dadurch gereizten Gironde war das Dekret vom 29. Nov., wonach Ludwig die rhein. Kurfürsten zur Entlassung der Emigrantenarmee auffordern mußte. Im Dezember stellte man 160000 Mann unter die Waffen und anscheinend auf Antrag des Königs, der seit dem 10. März 1792 von einem girondistischen Ministerium unter Roland willenlos gelenkt wurde, ward 20. April der Krieg gegen Österreich einstimmig beschlossen.

Bei der Nachricht von der ersten Niederlage der Franzosen wurde die Aufregung der Massen ungeheuer. Die Nationalversammlung erklärte sich in Permanenz und verfügte die Zusammenziehung eines Lagers von 20000 Mann Föderierter in der Nähe von Paris. Als der König, seine Hoffnung, auf die Pariser Nationalgarde setzend, 8. Juni diesem Vorschlage die Zustimmung versagte und am 13. das Ministerium Roland entließ, setzten die Girondisten alle Hebel an, um ihn zu stürzen. Auf ihren Betrieb erschienen 20. Juni die bewaffneten Haufen der Vorstädte vor der Versammlung und verlangten die Abschaffung des königl. Veto. Gegen Mittag drangen die Massen in das Schloß und verlangten die Vollziehung der Dekrete. Ludwig widerstand. Darauf erklärte die Kammer 5. Juli das Vaterland in Gefahr, man rief Freikorps zusammen und bewaffnete das Volk mit Piken. Inzwischen waren die Preußen nach einem Manifest des Herzogs von Braunschweig in die Champagne eingerückt. (S. Französische Revolutionskriege.) Während die Jakobiner die Vorstädte in Aufruhr setzten und den Marseiller Pöbel an sich zogen, verhandelte 9. Aug. die Versammlung die Absetzung des Königs. Am 10. Aug. setzten die Pariser Sektionen einen revolutionären Bürgerrat ein und griffen die im Innern von den Schweizern verteidigten Tuilerien an. Die Nationalgarden weigerten sich, auf das Volk zu schießen, und so sah sich der König genötigt, mit seiner Familie in die Nationalversammlung zu flüchten. Die girondistischen Minister wurden wieder eingesetzt, den Beschlüssen der Versammlung Gesetzeskraft zugesprochen und die Zusammenberufung eines Nationalkonvents angeordnet. Den König führte man 13. Aug. als Gefangenen mit seiner Familie in den Temple. Der konstitutionelle Thron, die Verfassung von 1791 und der Einfluß aller Anhänger des Königtums waren nun vernichtet. Die Pariser Gemeinde, an deren Spitze die radikalsten Jakobiner standen, nötigte die Versammlung zur Einsetzung einer Gerichtskommission, die über die Verschworenen des 10. Aug., wie man die Anhänger des Königs nannte, Untersuchung führen sollte; alle unbeeideten Priester wurden eingekerkert. Um die Royalisten in Schrecken zu setzen und die Gemäßigten vor den Neuwahlen einzuschüchtern, setzte der Justizminister Danton die Errichtung eines Verteidigungsrats durch und gab 2. Sept. das Signal zu den Gefängnismorden. Einige Tage wütete der Pöbel gegen die als verdächtig eingekerkerten Aristokraten. Die Nationalversammlung löste sich 21. Sept. 1792 auf, und der Nationalkonvent (Convention nationale) trat sofort an ihre Stelle.