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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Geschichte
die monographische, welche ein einzelnes Ereignis zu erforschen und in seinen Wirkungen zu würdigen sucht oder die G. einer Einrichtung, einer Gesellschaftsklasse, eines Geschlechtes mitteilt, und die biographische G., welche die Geschicke einer einzelnen Persönlichkeit und ihre Bedeutung darlegt. Einer Methodologie zugänglich sind an der G. die Quellenkunde (Heuristik) und die Kritik. Erstere beschäftigt sich mit der Aufspürung und Sammlung der Quellen, das ist des Materials, welches dem Geschichtsforscher die Erkenntnis des Geschehenen ermöglicht. Diese Quellen können sein:
1) Berichte, d. h. nachträgliche Erzählungen von Zeitgenossen oder später bebenden, mit der Absicht, der Mit- oder Nachwelt die Kunde des Geschehenen zu übermitteln (histor. Überlieferung, Tradition), z. B.: Annalen, Chroniken, Memoiren, Tagebücher, Gesandtschaftsberichte, rein erzählende Urkunden lind Inschriften.
2) Überreste, d. h. Reste der histor. Handlung selbst, bei denen die Absicht nachträglicher Berichterstattung nicht vorliegt, die vielmehr selbst histor. Handlungen darstellen oder solche hervorgerufen haben, wie: Gesandtschaftserlasse, militär. Befehle, Instruktionen, Gesetze, dispositive Inschriften und Urkunden, ferner die Überreste im engern Sinn, wie überkommene Anschauungen, Sagen, Sprichwörter, histor. Lieder, die Sprache, Sitten und Einrichtungen, Erzeugnisse der Natur, des Gewerbes, der Kunst, besonders auch Siegel, Wappen und Münzen.
Die unter 1 genannten sind die ältern, die unter 2 die erst später bekannt werdenden Quellen. In unserer histor. Überlieferung überwiegen für Altertum und Mittelalter die "Berichte", da die "Überreste" meist verloren sind, für die neuere Zeit dagegen die "Überreste". Die moderne, insbesondere deutsche Geschichtsforschung (Niebuhr, Ranke) und ihre glänzendsten Verdienste beruhen darauf, daß die histor. Forschung und Darstellung sich immer mehr von den berichterstattenden Quellen emancipiert und, soweit irgend möglich, auf die als Überreste bezeichneten Quellen sich aufbaut.
Der größte Teil der sog. "quellenkritischen Untersuchungen" bei Memoiren, Chroniken u. dgl. stellt sich dar als der Versuch, die berichterstattenden Quellen auf Grund der Überreste und Akten zu prüfen und zu berichtigen (epochemachendes Werk: Ranke, "Kritik neuerer Geschichtschreiber", 1821), oder aber die aus zweiter, dritter oder vierter Hand überlieferten Berichte auf die ursprünglichen Berichte zurückzuführen, bez. die letztern aus den erstern herauszuschälen (epochemachend: die genannte Schrift Rankes und das quellenkritische Verfahren der "Monumenta Germaniae".
Für Behandlung und Erläuterung der meisten Gattungen dieser Denkmäler und Überreste giebt es besondere Wissenschaften, so die Archäologie (s. d.) und Kunstgeschichte (s. d.). Zum Behuf der geschichtlichen Forschung aber sind mehrere Gattungen derselben in eigenen Disciplinen behandelt, nämlich die Münzen in der Numismatik, die Siegel in der Sphragistik und die Wappen in der Heraldik, die alle als Hilfswissenschaften der G. in Betracht kommen. Die Numismatik (s. d.) oder Münzkunde interessiert den Geschichtsforscher nur nach ihrem histor. Teil. Er betrachtet an den Münzen oder Medaillen ihr Alter und ihren Gebrauch im bürgerlichen Leben und achtet auf die durch Bild und Schrift auf vielen derselben mitgeteilten histor. und geogr. Andeutungen. Erheblich sind auch für die G. des Abendlandes im Mittelalter, insbesondere der Fürstenhäuser und adligen Geschlechter Europas, die Sphragistik und Heraldik (s. d.), die manche wichtige histor. Aufklärung gewähren, besonders aber die Genealogie (s. d.) unterstützen, die für die Aufklärung mancher histor. Verhältnisse (Thronfolgen, Thronstreite, Regentschaften, Vormundschaften u. s. w.) große Wichtigkeit hat. Einen hervorragenden Platz unter den Hilfswissenschaften der G. nimmt endlich die Chronologie ein, die Lehre von der Zeitrechnung und dem Kalenderwesen der verschiedenen Zeiten und Völker. Die wertvollsten und ergebnisreichsten Überreste sind aber die schriftlichen Denkmäler, die in Inschriften, Urkunden und Akten zerfallen. Die Inschriften dienen wegen der in ihnen offenkundig ausgesprochenen Absicht, ein Ereignis, eine That, ein Gesetz auf die Nachwelt zu bringen, und wegen ihrer den Ereignissen meist unmittelbar nachgefolgten Entstehung vorzüglich zu deren Beglaubigung. Die Kunst, alte Inschriften zu lesen, zu entziffern, zu ergänzen und zu benutzen lehrt die Epigraphik (s. d.), während die Paläographie (s. d.) sich mit den Handschriften der Codices und der Urkunden befaßt. Die Erklärung, Beurteilung und Benutzung der Urkunden lehrt die Diplomatik (s. d.) oder Urkundenlehre, in deren Kreis man auch die Kenntnis der Siegel gezogen hat. Für den Historiker ist die Urkundenlehre eine um so wichtigere und unentbehrlichere Wissenschaft, als zahlreiche Urkunden gefälscht worden sind; die Urkundenlehre aber bietet die Mittel, die Fälschungen zu erkennen und nachzuweisen. Besonders für die G. des Mittelalters ist diese Kunst von größter Wichtigkeit. Mit dem 16. Jahrh. tritt die Bedeutung der Urkunden als Quellen zurück, unvergleichlich reichere Ausschlüsse geben fortan die Akten der sich nun entwickelnden Centralbehörden des Staates. Zu den Akten sind auch die Berichte der Gesandten, der Briefwechsel und überhaupt der schriftliche Nachlaß der hervorragenden geschichtlichen Persönlichkeiten, der oft in Privathänden geblieben ist, zu rechnen. An Wichtigkeit überragen diese zu den Überresten zu zählenden Quellen für die neuere G. bei weitem die für die frühern Perioden den ersten Platz einnehmenden schriftstellerischen Zeugnisse, und zwar nicht nur solche, die in den Werken der eigentlichen Geschichtschreiber (Geschichtsquellen) niedergelegt sind, sondern auch die, welche in gelegentlichen Notizen der Redner, Dichter, Lexikographen und Grammatiker, namentlich aber in Zeitungen (s. d.) und Flugschriften (s. d.) sich finden. Der Grad ihrer Glaubwürdigkeit hängt von der Unverdorbenheit des überliefernden schriftlichen Zeugnisses und von der Zuverlässigkeit des überliefernden Schriftstellers ab. Dies klarzulegen ist Sache der historischen Kritik. Diese lehrt einerseits als äußere Kritik, die Echtheit schriftstellerischer Zeugnisse, ihre teilweise Interpolation, ihren Entstehungsort und ihre Entstehungszeit sowie ihre Abhängigkeit von andern schriftstellerischen Zeugnissen erkennen. Dagegen lehrt sie andererseits als innere Kritik prüfen, inwieweit der Schreiber derselben Willen, Möglichkeit und Fähigkeit hatte, sich selber zuverlässige Kunde über das Geschehene durch Augenzeugenschaft oder aus fremder Mitteilung zu verschaffen, und gewillt und fähig war, das Erfahrene unverfälscht und unverdorben der Nachwelt zu überliefern.