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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Goethe (Johann Wolfgang von)

(1791-1817) die Leitung des Hoftheaters, das er zu litterar. Experimenten sowie dazu benutzte, um einen für die Entwicklung der deutschen Schauspielkunst wichtigen idealen Vortragsstil auszubilden. (Vgl. Pasqué, G.s Theaterleitung, 2 Bde., Lpz. 1863; Burkhardt, Das Repertoire des weimarischen Theaters unter G.s Leitung, Hamb. 1891; Wahle, Das Weimarer Hoftheater unter G.s Leitung, Weim. 1892.) Aber die Freundschaft des Herzogs blieb ihm treu. Dagegen löste sich der Seelenbund mit Frau von Stein, als er die jugendliche, schöne Christiana Vulpius (geb. 6. Juni 1764 zu Weimar als Tochter des Weimar. Amtsarchivars Joh. Friedr. Vulpius, gest. 6. Juni 1816; vgl. E. Brauns, Christiane von G., 2. Aufl., Lpz. 1888) 1788 in sein Haus nahm, eine einfache Natur, gesund und gescheit, vielleicht etwas derb, aber voll Verständnis und hingebender Sorge für ihren großen Freund. Sie ist nicht nur die Heldin seiner von heidn. Lebenslust strotzenden "Römischen Elegien", nicht nur sein stilles "Veilchen", sondern ihr brachte er später auch die tiefsinnige, auf ein innerliches Verstehen berechnete Elegie "Die Metamorphose der Pflanzen" dar. In dem gleichnamigen Prosaaufsatz führte er 1790 den wissenschaftlichen Grundgedanken von dem Zusammenhang und der Entwicklung aller organischen Wesen aus einer Urform aus: schon früher (1784) hatte er durch Entdeckung des Intermaxillarknochens beim Menschen den letzten scharfen anatom. Unterschied zwischen Menschen und Tier beseitigt. G. steht durch diese Gedankenreihen mit an der Spitze der modernen naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie, seine Naturansicht entspricht, und zwar in genialer Ausdehnung über die gesamte Natur, dem Standpunkt, den wir jetzt durch Darwins Namen bezeichnen, während seine optischen, namentlich gegen Newton gerichteten Studien zu sehr auf täuschender Anschauung und zu wenig auf sicherer Berechnung beruhten, um siegreich sein zu können ("Beiträge zur Optik", 1791; "Zur Farbenlehre", 1810). Jene Einsicht in die organische Entwicklung der Wesen verband ihn eng mit Herder, dessen "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" sich in ähnlicher Richtung bewegten.

Dem Freunde der ruhigen natürlichen Entwicklung mußten die revolutionären Zuckungen der Zeit in Wirklichkeit und Dichtung tief widerstreben. Wie wenig G. zu der Französischen Revolution ein rechtes Verhältnis zu finden wußte, lehren die unzulänglichen poet. Versuche, sich mit ihr abzufinden ("Der Großkophta", 1792; "Der Bürgergeneral", "Die Aufgeregten", "Unterhaltungen der Ausgewanderten", 1793; die kühle, bei großer formeller Vollendung wirkungslose, weil allzu typisch gehaltene Jambentragödie "Die natürliche Tochter", 1802, nach einem franz. Memoirenwerk; endlich das dramat. Fragment "Das Mädchen von Oberkirch", um 1808). So darf es nicht wundern, daß ihm Schillers Jugenddramen mit ihrem polit. Pathos widerstrebten. Die beiden Männer rückten sich auch nicht gleich näher, als Schiller Jenaer Professor wurde. Erst ein zufälliges naturwissenschaftliches Gespräch und dann die Einladung zu den "Horen", die Schiller 23. Aug. 1794 an G. richtete, knüpften engere Beziehungen; aus denen erwuchs eine mehr als zehnjährige Freundschaft der ebenbürtigen Geister, die der Tod erst löste. Den reichern innern Gewinn trug ohne Frage Schiller davon; G. wurde durch den betriebsamen Freund zwar zur Produktion gedrängt und in das litterar. Getriebe hineingerissen, aber für seine Entwicklung bedeutete Schiller wenig. Doch unersetzlich wertvoll war das Vertrauen, das G. dem verständnisvollen Urteile des Genossen schenken durfte; vor ihrem Bunde traten selbst die Beziehungen zu Herder zurück, von andern zu schweigen, die, wie G.s Berater in Kunstsachen, H. Meyer, nur Männer zweiten Ranges waren. G., der Mann der Anschauung, fand sich mit Schiller, dem Manne der Idee, in der Bewunderung für die Alten: nie war G. antiker in seiner Dichtung als eben in dieser Periode. In ihr entstand der Helena-Akt des "Faust", der schöne Torso der "Achilleis", das Maskenspiel "Paläophron und Neoterpe"; das Trauerspiel "Die Befreiung des Prometheus" wurde in Angriff genommen; selbst die Übersetzungen des Voltaireschen "Mahomet" und "Tancred" bangen zusammen mit der Wertschätzung antiker Form; G. gründet mit Meyer die Zeitschrift "Die Propyläen", die, wie das spätere Organ der Weimarer Kunstfreunde "Kunst und Altertum", immer wieder auf die antike Kunst hinwies. Distichon und Hexameter sind G. jetzt die Lieblingsmaße: jenes ertönt nicht nur in den herrlichen "Elegien" (z. B. "Alexis und Dora", "Der neue Pausias"), in den "Venetianischen Epigrammen" (1790 entstanden, 1795 erschienen), in den geheimnisvollen Sprüchen der "Weissagungen des Bakis", sondern besonders auch in den durch die flaue Aufnahme der "Horen" hervorgerufenen "Xenien" (1796), einer Reihe von Epigrammen, in denen er gemeinsam mit Schiller eine fürchterliche Musterung über die gleichzeitige Litteratur und Kritik abhielt. (Vgl. Die Schiller-Goetheschen Xenien, erläutert von Saupe, Lpz. 1852.) Der Hexameter wurde nicht nur in der "Achilleis" und in dem zu Homerischer Behaglichkeit aus Gottscheds Prosa umgedichteten Tierepos vom "Reineke Fuchs" (1794) verwendet, sondern vor allem auch in dem Meisterwerk der Epoche, in dem Epos "Hermann und Dorothea" (1797; vgl. W. von Humboldt, Ästhet. Versuche über G.s Hermann und Dorothea, 4. Aufl., Braunschw. 1882). In die Schicksale einfacher tüchtiger Menschen ragen hier die Nachwirkungen der Revolution bedeutend herein; die Salzburger Emigranten seiner Quelle werden bei G. zu franz. Auswanderern; moderne Zeitmotive und antik epischer Ton vereinigen sich in einem echt deutschen Kleinstadtsidyll zu unvergleichlicher Wirkung, der man Vossens "Luise" nie hätte an die Seite stellen dürfen. Andere epische Pläne ("Tell", "Die Jagd") blieben unausgeführt. Dagegen zeitigte das ertragreiche Jahr 1797 und sein Nachfolger unter Schillers deutlicherm Einfluß die Mehrzahl der G.schen Balladen; manche von ihnen führte den Dichter in die Zauber- und Nebelwelt des "Faust", zu dessen Vollendung Schiller unermüdlich drängte. Er erlebte diese nicht, wohl aber das Erscheinen von "Wilhelm Meisters Lehrjahren" (1795-96; vgl. Minor, im Goethe-Jahrbuch, hg. von Geiger, Bd. 9, Frankf. a. M. 1888), in denen allerdings das bunte, greifbare Leben der ersten Bücher nicht recht paßt zu dem gesuchten Schlußmotiv, dem pädagogischen Wirken des Geheimbundes, bei welchem dem Freimaurer wohl ein Motiv der Loge hereinspielte. Aber Frauengestalten wie Mignon und Philine sind nirgends von Reflexion angekränkelt; die Hamlet-Analyse ist glänzend, wenn auch anfechtbar; die Scenen aus dem Schauspielerleben verwerten reiche Erfahrung, und es ist