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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Russische Litteratur

schäftigte sich eifrig mit deutscher Philosophie (besonders Hegel), deutscher Dichtung und Kunst; zwei seiner Mitglieder, K. Aksakow und A. Chomjakow, trennten sich bald von ihm los und bildeten mit den Brüdern I.^[Iwan] und P. Kirjejewskij einen eigenen Kreis, den der Slawophilen. Dem Stankewitschschen Kreise entgegengesetzt war der Al. Herzensche, der Geschichte, Politik und vor allem die Werke der franz. Socialisten studierte. In den vierziger Jahren bildeten sich aus diesen Kreisen zwei getrennte Lager: die Anhänger des Westens (Zapadniki) und die Slawophilen. - Aus dem Kreise Stankewitschs ging hervor der geniale Wissarion Bjelinski, dessen Thätigkeit für die Entwicklung der russ. Kritik und des Litteraturstudiums epochemachend wirkte. Er war es unter anderm, der zuerst Gogols Bedeutung richtig würdigte, und der der neuen realistischen sog. "natürlichen" Schule die Wege bahnte. Diese neue Schule trat zuerst in den vierziger Jahren auf. Ein glückliches Geschick ließ fast gleichzeitig eine Reihe Belletristen ersten Ranges erstehen, die in der Folge dem russ. Roman eine hervorragende Stellung in der Weltlitteratur verschafften A. Herzen (unter anderm "Wer ist schuld?", 1845), I. Turgenew (die ersten Skizzen aus dem "Tagebuch eines Jägers"), I. Gontscharow ("Die gewöhnliche Geschichte", 1847), F. Dostojewskij ("Arme Leute", 1846), etwas später L. Tolstoj ("Kindheit", "Knabenalter" u. a.), zu denen mehrere weniger bedeutende, aber doch achtungswerte Talente traten, wie S. Aksakow (Fragmente aus der "Familienchronik", 1846), D. Grigorowitsch ("Das Dorf", 1846, "Anton der Unglücksrabe"), A. Pissemskij, M. Sologub ("Der Tarantas"), Al. Drushinin ("Polinka Sachs", 1847) u. a., von Frauen N. Chwoschtschinskaja (W. Krestowskij-Pseudonym), N. Sochanskaja (Kochanowskaja). Alle diese Novellisten der vierziger Jahre zeichnen sich mehr oder weniger aus durch künstlerischen Realismus, scharfe Beobachtung des Lebens, Sympathie für die untern Volksklassen. In ihrer ruhigen Entwicklung sollte die Schule aber bald gestört werden.

Die sociale Gärung Mitte der vierziger Jahre, der Widerhall der revolutionären Bewegung des Westens in Rußland hatten eine noch ärgere Bedrückung der Geister durch die Regierung zur Folge. Die Entdeckung der sog. Petraschewskijschen Verschwörung brachte mehrern bedeutenden Schriftstellern, darunter Dostojewskij, Verbannung nach Sibirien. Der offizielle Patriotismus, der der Aufregung der Gemüter als Blitzableiter dienen sollte, führte schließlich zum Krimkrieg (1853-56), dessen trauriges Ergebnis die Mißstände in der Regierung und Verwaltung und die Notwendigkeit von Reformen klarlegte. Es begann eine Periode der Selbsterkenntnis und Bloßlegung der Schäden in der Gesellschaft und der Litteratur. Die Freigebung der Presse hatte ein plötzliches Zunehmen der periodischen Blätter und eine vorher nicht dagewesene Kühnheit der Sprache derselben zur Folge. Als Muster diente ihnen Alexander Herzens im Ausland herausgegebene "Glocke". Das bedeutendste Petersburger Blatt radikaler Tendenz war Tschernyschewskijs "Zeitgenosse" und das dazugehörende Witzblatt "Die Pfeife", das ebenso wie die litterar. Kritik des "Zeitgenossen" in den Händen Nikolaj Dobroljubows lag. Dieser radikale Ton dauerte bis zum Anfang der sechziger Jahre. Das erste Auftreten des Nihilismus, für den man Herzen und seine Anhänger verantwortlich machte (Katkow in der "Moskauer Zeitung"), bewirkte eine Einschränkung der Presse, Aufhebung einiger Blätter, verschärfte Censur. Tschernyschewskij wurde nach Sibirien geschickt. In der Regierung trat ein reaktionärer Umschwung ein. Zum Stimmführer der Reaktion wurde die früher liberale "Moskauer Zeitung" unter Mich. Katkow.

In der nachgogolschen schönen Litteratur nimmt, weit mehr als in den westeurop. Litteraturen, eine bedeutende Stelle ein die Schilderung des Volkslebens. In den vierziger Jahren tritt, wie z. B. in Turgenews Skizzen aus dem "Tagebuch eines Jägers", in Dostojewskijs "Armen Leuten" u. s. w. das Bestreben hervor, die sympathischen Seiten des Bauers, des kleinen Beamten hervorzuheben. Bei weniger bedeutenden Schriftstellern, wie Gregorowitsch und später Marko Wowtschok, zeigt sich oberflächliche Kenntnis des Volks, idealisierende sentimentale Auffassung. In den fünfziger Jahren diente der Bauer als komische Figur (N. Uspenskij, W. Sljepzow). Nähere Bekanntschaft mit dem Volksleben vermitteln in den fünfziger und sechziger Jahren die Resultate der offiziellen Expeditionen und die Beobachtungen einzelner Beamten in der Provinz, wie z. B. die Schilderungen der sibir. Sträflinge S. Maksimows, der neuruss. Leibeigenen G. Danilewskijs, der Dissidenten Melnikows (Petscherskij), die Studien des originellen Folkloristen P. Jakuschkins u. s. w. Allmählich aber ging, wie überhaupt die Litteratur, so auch dies Gebiet, immer mehr in die Hände von Leuten aus dem Volke selbst über. Ende der fünfziger Jahre erschien eine Menge von Dichtungen, die zwar formell denen der vierziger Jahre nachstehen, sie aber in ungeschminkter Darstellung der Volkskreise übertreffen. Zunächst in den sechziger Jahren überwiegt die Schilderung des Volks in seiner socialen und ökonomischen Schutz- und Rechtlosigkeit den andern Klassen gegenüber, z. B. in F. Reschetnikows "Podlipowzer", A. Lewitows "Steppenskizzen" und seine Schilderungen des Moskauer und Petersburger Proletariats, N. Naumows Beschreibungen sibir. Bauernlebens u. s. w. Seit den siebziger Jahren endlich beginnt das vertieftere Studium des eigentlichen Wesens und der Grundlagen des Volkslebens, so besonders in den Schriften Gljeb Uspenskijs (z. B. "Sitten der Rastarjajewstraße", "Menschen und Sitten des gegenwärtigen Dorfs") und Nik. Slatowratskijs (z. B. "Die Pfeiler, Geschichte eines Dorfs").

Die sanguinischen Hoffnungen und die Begeisterung für öffentliche Fragen in der dem Regierungsantritt Alexanders II. folgenden Reformenperiode erzeugten einen besondern Zweig der Novellistik, die tendenziöse "Anklagelitteratur", deren bedeutendster Vertreter, M. Saltykow (N. Schtschedrin), durch seine "Gouvernementsskizzen" (1856) mit einem Schlag zu einem der populärsten Schriftsteller wurde und seitdem während seiner fruchtbaren Thätigkeit die Wandlungen der russ. Zustände und der Gesellschaft in allgemeinen, schonungslos satir. Typen widergespiegelt hat. Der jung verstorbene Nik. Pomjalowskij gab in seinen "Skizzen aus der Bursa" ein erschreckendes Bild von den Zuständen des Petersburger geistlichen Seminars und schuf in den Romanen "Bürgerliches Glück" und "Molotow" den neuen Typus des emporstrebenden Mannes aus dem Volk in seinen guten und abstoßenden Eigenschaften. Schablonenhafte Gegenüberstellungen der