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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Rußland (Geschichte 1855-81)

suchte den griech.-türk. Streit zu vermitteln, und R., zum Kriege nicht gerüstet, mußte selbst Griechenland zur Annahme des Konferenzprotokolls raten. Das Verhältnis zu Preußen gestaltete sich immer inniger und wurde auch durch die panslawistische Richtung, die in der öffentlichen Meinung R.s immer mehr Boden gewann, nicht erschüttert.

Beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 und 1871 erklärte R. seine Neutralität (23. Juli) und zwang durch seine entschiedene Haltung Österreich gleichfalls in derselben zu verharren. Dafür war die deutsche Diplomatie R. behilflich, die demütigende Bestimmung des Pariser Friedens, die R. verbot, im Schwarzen Meer seine Flotte zu vergrößern und Kriegshäfen anzulegen, abzustreifen. (S. Pontusfrage.) Die Zusammenkunft des Kaisers Alexander II. mit den Kaisern Wilhelm I. und Franz Joseph 5. bis 12. Sept. 1872 in Berlin bewies die Aussöhnung R.s mit Österreich und die gegenseitige Verständigung der drei Herrscher.

Die ungerechte Behandlung, welche die Pforte ihren christl. Unterthanen angedeihen ließ, und ihre Weigerung, den im Pariser Vertrag von 1856 übernommenen Verpflichtungen vollständig nachzukommen, benutzte R. als eine neue Kriegsfrage. Der Aufstand in der Herzegowina und in Bosnien im Juli 1875 veranlaßte zunächst die diplomat. Intervention der russ. Regierung. Sie legte bei der Dreikanzlerzusammenkunft in Berlin 11. bis 14. Mai 1876 das sog. Berliner Memorandum vor, dessen Annahme an der Weigerung Englands scheiterte. Montenegro und besonders Serbien, welche im Juli der Pforte den Krieg erklärt hatten, wurden von R. in nicht offizieller Weise unterstützt und letzteres, als es, dem Untergange nahe, die Hilfe R.s anrief, durch das der Pforte gestellte Ultimatum des Zaren vom 30. Okt. gerettet. Am 10. Nov. erklärte Kaiser Alexander, von der öffentlichen Meinung gedrängt, seinen Entschluß, der Pforte den Krieg anzukündigen, falls diese keine Garantien für die Ausführung der von den Großmächten gestellten Forderungen gebe. Als die in Konstantinopel vom 23. Dez. 1876 bis 20. Jan. 1877 tagende Konferenz der Bevollmächtigten der Großmächte und das Londoner Protokoll vom 31. März 1877 zu keinem Resultat führten, wurde der Krieg durch das vom 24. April 1877 datierte Kriegsmanifest des Kaisers verkündigt. (S. Russisch-Türkischer Krieg von 1877 und 1878.)

R. war trotz des tapfern Widerstandes der Türkei schließlich siegreich. Die Pforte bat um Waffenstillstand; derselbe wurde nebst den Präliminarfriedensbedingungen 31. Jan. 1878 zu Adrianopel unterzeichnet, 3. März der Friedensvertrag von San Stefano (s. d.) abgeschlossen. Aber die Ziele, welche R. nach seinen Waffenerfolgen anstrebte, veranlaßten das Einschreiten Englands. Nach langen Verhandlungen kam durch die Vermittelung der deutschen Regierung der Berliner Kongreß (s. d.) zu stande, der die orient. Verhältnisse endgültig regeln sollte und unter dem Vorsitz des Fürsten Bismarck 13. Juni 1878 eröffnet wurde. In dem 13. Juli unterzeichneten Friedensvertrag erhielt R. von Türkisch-Asien die Gebiete von Kars, Ardahan und Batum, und der durch den Pariser Vertrag 1856 von R. an die Türkei abgetretene Teil von Bessarabien wurde von Rumänien, das die Dobrudscha erhielt, an R. zurückgegeben. Dagegen mußte R. zu einigen, von den Friedensbestimmungen von San Stefano abweichenden Abmachungen über die künftige Gestaltung der Balkanhalbinsel seine Zustimmung geben. Der ostensible Zweck des Krieges, Befreiung der russ. Stammes- und Glaubensgenossen von der türk. Willkürherrschaft, war erreicht; der eigentliche Zweck, R. einen übermächtigen Einfluß auf der Balkanhalbinsel zu verschaffen, war verfehlt, während Österreich und England, die keinen Teil an dem Kriege genommen hatten, das eine mit der Verwaltung Bosniens und der Herzegowina, das andere mit der Cyperns betraut wurden. Daher war in R. weder Regierung, noch Armee, noch Presse mit den Ergebnissen des Krieges zufrieden, und Deutschland wurde der unbegründete Vorwurf gemacht, es habe auf dem Berliner Kongreß R. um die Früchte des Krieges gebracht. Die Folge dieser Spannung zwischen R. und Deutschland war, daß im Sommer 1879 in Paris über den Abschluß eines russ.-franz. Bündnisses verhandelt wurde, daß zur Beilegung der polit. Mißstimmung Kaiser Wilhelm I. 3. Sept. in Alexandrowo eine Zusammenkunft mit Kaiser Alexander hatte, und daß Fürst Bismarck, um Deutschland gegen die Gefahr einer russ.-franz. Offensivallianz zu sichern, in Gastein und in Wien eine Defensivallianz mit Österreich abschloß.

Gleichzeitig mit diesen den Sturz der türk. Herrschaft bezweckenden Bestrebungen erfolgte das Vorgehen R.s in Centralasien. Ein Konflikt mit China wegen Kaschgar (in Ostturkestan) wurde 1874 durch engl. Intervention beigelegt, das 1871 occupierte Kuldschagebiet 1881 an China zurückgegeben, außer einem kleinen Distrikt nordöstlich vom Fluß Ili. Durch den Feldzug Skobelews wurden 1881 die Tekke-Turkmenen unterworfen und ihr Gebiet R. einverleibt.

Sehr wichtig und wohlthätig war die Regierungsthätigkeit Alexanders II. im Innern. Gleich bei seiner Krönung zu Moskau 7. Sept. 1856 verkündete der Kaiser ausgedehnte Gnadenerlasse, verminderte die Abgaben und ließ die Rekrutenaushebung auf mehrere Jahre einstellen. Die hartbedrückten Juden erfuhren eine mildere Behandlung, und die bisherige strenge Absperrung gegen das Ausland hörte auf. In allen Zweigen der Verwaltung wurden Reformen angebahnt. Ein großes Eisenbahnnetz ward projektiert und der Ausbau desselben einer internationalen Aktiengesellschaft übertragen. Auch das Königreich Polen erhielt Beweise des kaiserl. Wohlwollens. Besondere Fürsorge wurde dem Bauernstande zugewandt, der (außer in Finland und den Ostseeprovinzen) noch überall in R. unter der Leibeigenschaft stand. Im Sept. 1859 wurden Abgeordnete der Adelskorporationen aus allen Provinzen nach Petersburg berufen, um an der Festsetzung eines Emancipationsgesetzes teilzunehmen; nachdem der Entwurf in letzter Instanz vor dem Reichsrat verhandelt war, wurde das Manifest betreffend die Aufhebung der Leibeigenschaft 19. Febr. (3. März) 1861 vom Kaiser vollzogen. Danach erlangten die leibeigenen Dienstleute, deren Zahl etwa 1½ Mill. betrug, nach zwei Jahren ihre völlige persönliche und bürgerliche Freiheit; ebenso die an die Scholle gebundenen Bauern, welche über 20 Mill. zählten. Letztere erhielten überdies das Recht, die Gehöfte, die sie in Nutznießung hatten, durch Ablösung als Eigentum zu erwerben. Die kaiserl. Apanage- und Kronbauern, über 22 Mill., erhielten durch Ukas vom 8. Juli 1863 vorteilhafte Ablösungsbedingungen.

Zu gleicher Zeit schritt das Finanzministerium zu einer Reform der Staatskreditanstalten. Jetzt, wo alles darauf ankam, den Gutsherren den Kredit zu