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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Saint-Simon (Louis de Rouvroy, Herzog von) - Saint-Simonismus
Es zeigt sich in ihm eine merkwürdige Mischung
oon Phantastik, Überspanntheit und genialen Ge-
dankenblitzen, wie sie sich namentlich in seinen ge-
schichtsphilos. Auffassungen finden. Einen eigent-
lichen socialen Reformplan bat er nickt aufgestellt.
Für die Ausschreitungen seiner Schule (s. Saint-
Simonismus) kann er nicht verantwortlich gemacbt
werden. Von seinen vielen Schriften sind nock zu
erwähnen: "V63 i^ourdonZ 6t ä63 8tuai't3" (Par.
1822) und "OpinionZ 1itt6rair63, p1iil030pdi^u08
et iliäu3ti-i6N68" (ebd. 1825). Eine Gesamtausgabe
der "d^ivr68" des Meisters begann Nodrigues (Par.
1832 fg.); die wichtigern Schriften sind auch in
"(Nuvi-63 cd0i3i68" (3 Bde., Brüss. 1859; 2. Aufl.
1861) enthalten. Eine neue Ausgabe wurde auf
Grund des Testaments von Enfantin unternommen
("Nivi-68 ä6 8. 6t ä'^niantw", 47 Vde., Par. 1805
-78). - Vgl. Hubbard, 8., 8!i vi6 6t 868 ti-avlnix
(Par. 1857); Crozals, 8^int-3im0n (ebd. 1891);
Boissier, 8kiQt-3ilQ0ii (ebd. 1892); Weill, Hn pi-6-
cui'36ui- äu 80ciHii8iu6. 3. 6t 8071 cmivi-6 (ebd. 1894).
Samt-Simon (spr. ßäng himöng), Louis de
Rouvroy, Herzog von, franz. Schriftsteller, geb.
16. Jan. 1675 zu Paris, trat unter die königl.
Haustruppen, diente unter dem Marschall Lurcm-
bourg und zeichnete sich bei Fleurus und Necrwinden
aus. Da ihn Ludwig XIV. vernachlässigte, verlies;
er den Militärdienst. Von strengen Sitten, stark
aristokratischem Gepräge und dem Iansenismus
ergeben, wurde er in den letzten Jahren Ludwigs XIV.
der Todfeind der Frau von Maintcnon und der
legitimierten Prinzen. Er unterstützte lcbbaft die
Ansprüche des Herzogs von Orleans auf die Regent-
schaft, und als der Herzog diese übernommen hatte,
trat er in den Regentschaftsrat, doch scheiterte sein
Plan, den hohen Adel zum ausschlaggebenden Faktor
in der Regierung Frankreichs zu machen. Nach dein
Frieds mit Spanien schickte ihn der Regent nack
Madrid, wo er die Verlobung des jungen Ludwig
mit der Infantin Marie Anna zu stände brackte
und zum Grand erhoben wurde. Nach dem Tode
des Regenten zog er sich auf sein Landgut Lafcrte
zurück, roo er 2. März 1755 starb.
Sein Mcmoirenwerk, eine Hauptquclle für die
Zeitgeschichte, umfaßt die I. 1694-1723 und ent-
hüllt die persönlichen Triebfedern der Ereignisse und
die kleinen Intriguen des Hofs. Es enthält eine
Reihe von unübertrefflich scharfen, aber auch mit
der Parteilichkeit eines zurückgesetzten Hosmanns
gezeichneten Charakterbildern, die sein schöpferisches
Darstellungstalent in glänzendem Lichte erscheinen
lassen. Nach S.s Tode liesi der Hof seine Papiere
sogleich in Beschlag nehmen und in das Staats-
archiv niederlegen. 1784-1818 wurden Bruchstücke
daraus veröffentlicht. Eoulavie veranstaltete eine
mangelhafte Ausgabe der "d^i-68 coiuMt63"
(13 Bde., Straßb. 1791), der 1818 eine sorgfältigere
der "^I6in0ii-o8", besorgt von Laurent (in 6 Bänden),
solgte. Erst Karl X. ließ der Familie S. das Original-
manufkript wieder zustellen, worauf Sautelet eine
vollständige, im Ausdruck aber oft gemilderte Aus-
gabe der"Ä6M0ir68c0iiipi6t8 6t Hutd6ntilin63äuäuc
ci6 3. 3Ul 1o äi^Llk d6 I^oni3 XIV6t la. I^6F6nc6, 6tc."
M Bde., Par. 1829-30) veröffentlichte. Noch sorg-
fältigere Ausgaben veranstalteten Cheruel (20 Bde.,
Par. 1856-58; neue Ausg., 21 Bde., ebd. 1873-
81) und A. de Voislisle (30 Bde., 1884 fg.). Einen
Auszug gab Lanneau heraus, "3c6Q68 6t porti-^i^
etc." (2 Ade., Par. 2876). Faugere veröffentlichte
nock "öci-it8 W6äit3 ä6 3." (Bd. 1-8, Par. 1881
-93). - Vgl. Tremblay, I^io^r^n^ äu äue cis 3.
(Beauvais 1850); Taine, ^33^3 d6 ci-iti^us 6t
l1'1ii3toil6 (1858); Cbe'ruel, 3. con8ili6r6 cominL
ni3toi-i6n 66 I.0ui8 XIV (Par. 1865); Vaschet, 1.6
cwc ä6 3. (ebd. 1874); Cannan, 'Id6 än^6 ol 8.
(Lond. 1885).
Eaint-Timonismus (spr. ßäng), die socialisti-
sche Schule, welche in Frankreich nach des Grafen
Claude Saint-Simon (s. d.) Tode dessen Anhänger
gründeten. Jedoch ist der S. keineswegs identisch
mit der Lehre Saint-Simons; die Saint-Simonisten
baben sich nicht damit begnügt, die Lehre ihres
Meisters, die noch unfertig war, weiter auszubilden,
sondern baben auch neue und teilweise von Saint-
Simon abweichende Lehren aufgestellt. Die wich-
tigsten Saint-^imonisten sind Enfantin und Vazard.
Enfantin ls. d.) hatte schon im "I'i-oäuct^ui-" (1825-
26) eine Anzahl von Artikeln veröffentlicht, in wel-
chen der Gegensatz zwischen denen, die von ihrer
Arbeit, und denen, die von dem Ertrage fremder
Arbeit leben, als der wichtigste hervorgehoben wurde.
Besonders verbreitet wurde der S. bei den Vor-
lesungen, welcke Vazard (s.d.) im Auftrage und unter
Aufsicht des obersten Rats der Saint-Simonisten in
den I. 1828-30 hielt. Viele junge Männer, Car-
not, Michel Chevalier, Fournel, Percire u. a., tralen
den Bestrebungen bei. Die praktischen Maßregeln,
auf Grund welcher der S. zunächst seine wirtschaft-
lichen Ziele erreichen will, sind kurz die solgenden: Der
individuelle Besitz soll nicht völlig beseitigt werden,
wohl aber das Erbrecht. Als sein Ideal betrachtet
der S. eine allgemeine Verbrüderung aller Men-
schen zum Zwecke der friedlichen Arbeit (^ociHtiou
nQiv6i-36N6). Durch das auf den Staat übertragene
Erbreckt muß allmählich die ganze Masse der Pro-
duktionsmittel und der Konsumtionsgegenstände
auf friedlichem Wege an den Staat fallen. Die
Staatsgewalt soll eine thcokratische Färbung erhal-
ten, insofern als fast alle obrigkeitlichen Funktionen
Priestern übertragen sind. Eine wirtschaftliche Cen-
tralbebörde sollte eingesetzt werden, welche über alle
Produktionsmittel zu verfügen hätte und dicfclbcn
den Fübigstcn zur Produktion zuweifen follte. In-
dessen war auch eine neue Neligion versprochen,
und Ensantin unternahm es, eine neue Welt-
anschauung zu improvisieren und auf deren Grund
die neue Lebensordnung einzurichten. Man ver-
öffentlichte demnach einen zweiten Teil der "Nxpo-
8ition ä6 Ia llocti-in6", der die Saint-Simonistische
Religion und Theokratie darstellte. Alles, lehrt En-
santin, ist in und durch Gott; folglich ist auch der
sich in jeder That des Menschen manifestierende
Trieb des Genusses, des Fleisches, wie die Theologen
sagen, göttlich. Die "Harmonie" beider Gegensätze
ist jedoch Zweck des Daseins. Weil das Christentum
das Fleisch durch den Geist zu besiegen gebietet,
kann es die Menschheit nicht zur Vollendung sühren.
Enfantin pries Saint-Simon als den Vcrkündiger
der Emancipation des Flcifches, der jedoch ebcnfo
wenig als Bazard daran gedacht hatte. Noch 1829
wurde eine Zeitsckrist, der "Oi-Fani8at6ui-", und zu
Paris ein Kollegium gegründet, das den Vercini-
gungspunkt der Eingeweihten abgab.
Einen noch größeren Ausschwung nahm die Schule
nach der Revolution von 1830. Unter den vielen
Schriften, welche die Lehre verbreiteten, machte eine
"^conomi6 zx)1iti(iu6)> Enfantms unter der In-
dustriebcvölkerung großes Aufsehen. Durch Pierre