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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Socialdemokratie

nationale nationale des syndicats ouvriers de France). Entgegengesetzt diesen Richtungen sind die sog. Possibilisten, eine sehr gemäßigte Partei, die vermittelst allmählicher Reformen die sociale Frage lösen will. Zu diesen Spaltungen kam 1890 noch eine neue aus persönlichen Gründen: die Possibilisten gingen in zwei Fraktionen auseinander, von denen die eine Brousse, die andere dem Buchdrucker Allemane folgte. Durch die Reibereien hierbei erlitten Allemanisten und Broussisten erhebliche Einbuße, und es stellte sich heraus, daß die Marxisten unter Guesde den Vorteil davontrugen. Auch in der parlamentarischen Vertretung haben die franz. Socialisten neuerdings erheblich an Macht gewonnen. Während sie 1885 erst zwei Sitze in der Kammer hatten, wurden bei der Wahl von 1893: 30 Socialisten aller Schattierungen gewählt; die offizielle socialistische Partei zählt 50 Mitglieder, weil sich noch 20 Radikale der Partei angeschlossen haben. Bedeutende Führer sind noch: Jaurès, Vaillant und Milleraud. Außerdem sind bei der Gemeinderatswahl von 1892: 730 (1896 noch 200 mehr) Kandidaten der Socialisten gewählt worden. In einigen großen und vielen kleinen Städten besitzen sie die Majorität der Stadtverwaltung. Die wichtigsten der 23 Organe sind "Le Socialiste", Revue socialiste" und "Devenir social". Das Agrarprogramm des Kongresses von Marseille 1892 fordert: Einführung eines Minimallohns für die ländlichen Arbeiter, fixiert durch die Arbeitersyndikate und die Gemeinderäte; Schaffung ländlicher Gewerbegerichte; Verbot des Verkaufs von kommunalem Grundeigentum; Ankauf von landwirtschaftlichen Maschinen durch die Kommunen und Überlassung an die Ackerbauern zum Kostenpreise; Bildung ländlicher Einkaufs- und Verkaufsgenossenschaften u. s. w. Auf dem Kongreß zu Nantes (Sept. 1894) wurde einiges hinzugefügt: z. B. Abschaffung der Grundsteuer für die ihr Grundstück selbst bebauenden Grundeigentümer und Freiheit der Jagd und des Fischfangs. 1895 fand der 13. Jahreskongreß der französischen S. in Romilly-sur-Seine, 1896 der 14. in Lille statt; außerdem tagte Mitte Sept. 1896 in Tours der 5. Gewerkschaftskongreß der franz. Arbeiter. (S. auch Gewerkvereine.)

In England war schon in den dreißiger und vierziger Jahren eine mächtige Arbeiterbewegung vorhanden; der Chartismus (s. d.) und der Owenismus waren die wichtigsten Erscheinungen innerhalb derselben. Während der Chartismus eine socialrevolutionäre Bewegung darstellt, die in erster Linie die Erreichung größerer polit. Rechte anstrebt, damit diese dann im Interesse der Arbeiter benutzt werden könnten, trat Owen hauptsächlich für das Genossenschaftswesen ein, wenn auch sein eigentliches Endziel die kommunistische Gesellschaftsordnung war. Seit Owen 1815 seinen "Aufruf an das Volk" gerichtet und dasselbe zur Verwirklichung seiner Pläne aufgefordert hatte, waren in England und Schottland eine Anzahl von Genossenschaften gegründet worden; doch waren sie alle mit dem Gedanken begonnen worden, daß das von Owen verkündete kommunistische Zeitalter bald kommen werde. Wie fast alle die Owenschen Versuche zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen, scheiterten auch die von ihm ins Leben gerufenen Genossenschaften; erst die nach 1870 gegründeten gelangten zum Gedeihen. Die engl. Gewerkvereine (Trade Unions) waren ursprünglich nicht socialistisch, sondern erstrebten auf dem Boden der bestehenden privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung eine Besserung der Lage der Arbeiter, namentlich durch Lohnsteigerungen, Anpassung der Lohnhöhe an steigende Konjunkturen u. s. w. Anders ist es mit den in den letzten Jahren entstandenen neuern, besonders der ungelernten Arbeiter; in ihnen sind viel mehr socialistische Tendenzen vorhanden, namentlich unter dem Einfluß von John Burns. (S. Gewerkvereine.) - Neben den Trade Unions hat die Arbeiterschaft noch eine Anzahl weitere Vertretungen ihrer Interessen gefunden mit teilweise stark socialistischem Programm; aber keine der socialistischen Parteien in England kann auch nur entfernt mit der deutschen S. hinsichtlich ihrer Bedeutung verglichen werden. Anfang der achtziger Jahre wurde die unter Führung von Hyndman stehende Socialdemocratic Federation (S. D. F.) gegründet; ein Teil der Mitglieder trennte sich und stiftete die Socialist League, die unter dem Einfluß von William Morris mit den Anarchisten gemeinsame Sache machte, vor allem auch von einer Beteiligung am parlamentarischen Leben nichts wissen wollte. In streng marxistischem Sinne agitierte dann noch Dr. Aveling und Eleanor Marx, die Tochter von Karl Marx. Außerdem giebt es noch eine Menge lokaler Vereine mit den verschiedenartigsten Programmen. Die Socialdemocratic Federation hat ein Programm, das weitgehende sociale Reformen sowie die Verstaatlichung des Bodens fordert und die schrittweise Überleitung in die socialistische Gesellschaft in Aussicht nimmt. Ihr Organ ist: "Justice". Bei den Wahlen von 1892 wurden drei unabhängige, d. h. nicht auf den Schultern der Trade Unions stehende Arbeitervertreter, deren bedeutendster der schott. Bergarbeiter Keir Hardie ist, ins Parlament gewählt, dessen weit gehendes socialreformatorisches Programm aber nicht socialdemokratisch ist. Im Jan. 1893 ist dann auf einem Kongreß in Bradford eine "unabhängige Arbeiterpartei", Independent Labour Party (I. L. P.), mit einem ähnlichen Programm gestiftet worden, in der radikale Socialreformer und Socialisten der verschiedensten Nuancen vereinigt sind. Ihre wenig verbreiteten Organe sind: "Labour Leader", "Clarion" und "Weekly Times". Die I. L. P. besteht jetzt aus 50 000 Personen, die sich auf 310 Sektionen verteilen. (S. auch Fabian Society.) Bei den Wahlen des J. 1895 wurde kein einziger der 28 socialdemokratischen Kandidaten gewählt. Sie erhielten im ganzen 46 000 Stimmen, und die Social Democratic Federation konnte für ihre vier Kandidaten nur 3730 Wähler finden. Die als sog. Arbeitervertreter gewählten Deputierten sind als Parteigänger oder Alliierte der Liberalen gewählt. - Vgl. P. de Rousiers, La question ouvrière en Angleterre (Par. 1895).

In Belgien, wo bereits in den sechziger Jahren eine Sektion der "Internationale" mit zahlreichen Mitgliedern für socialistische Ideen Propaganda machte, kam namentlich seit Mitte der achtziger Jahre die socialdemokratische Bewegung mehr in Fluß. Besonders de Paepe und Volders waren hier erfolgreich thätig; jetzt sind Anseele, Vandervelde, Defuisseaux und Bertrand die Führer. Es wurde auf socialistischer Grundlage die belg. Arbeiterpartei, eine der bestorganisierten Europas, begründet, die nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts bei den Wahlen 1891 sofort 335 000 Stimmen erhielt und 32 Abgeordnete für die Repräsentantenkammer durchsetzte. Außerordentliche Erfolge hatte die S. bei den belg. Gemeinderatswahlen, die 19. Nov.