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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Ungarn (Geschichte)

das Kabinett Tisza bis 1890 mit öftern Veränderungen an der Spitze der ungar. Regierung. Als hervorragendere Akte der Gesetzgebung sind seit 1876 noch zu nennen: die 1876 und 1886 wiederholte Reform der Municipal- und Gemeindeverwaltung, verbunden mit einer teilweisen Neueinteilung der Administrationsgebiete, die Reform des Magnatenhauses (1885), die Verlängerung der Mandatsdauer der Mitglieder des Abgeordnetenhauses von drei auf fünf Jahre (1886), die Einführung des obligatorischen Unterrichts der ungar. Sprache in den Volksschulen (1879), die Schaffung eines dieselben Tendenzen verfolgenden Mittelschulgesetzes (1883) u. s. w. Schwierigkeiten boten die Einwirkungen der polit. Ereignisse auf der Balkanhalbinsel, wiederholte ernste Differenzen mit Kroatien und die oppositionelle Haltung der nichtmagyar. Nationalitäten, besonders der Serben, Rumänen und der Sachsen Siebenbürgens.

Auch die Militärfragen bereiteten der Regierung manche Unannehmlichkeiten. Zwar gegen das 1886 eingebrachte Landsturmgesetz machte man keine ernstliche Opposition, aber die Bekränzung der Gräber des 21. Mai 1849 bei der Verteidigung von Ofen gefallenen Generals Hentzy durch einige Offiziere wurde von den Ungarn als Beschimpfung ihrer Nation angesehen. Infolgedessen entstanden Juni 1886 in Pest Pöbelunruhen, die nur durch das Einschreiten des Militärs bewältigt werden konnten. Das 1888 vorgelegte Wehrgesetz, das die militär. Verhältnisse beider Reichshälften auf weitere zehn Jahre regelte, wurde besonders wegen des §. 25 angefochten, der verfügte, daß die Einjährig-Freiwilligen die Prüfung in deutscher Sprache ablegen sollten. Ebenso erregte auch der §. 14 des Wehrgesetzes Anstoß, wonach dieses auch nach Ablauf von zehn Jahren in Kraft bleiben sollte, wenn kein Antrag auf Abänderung gestellt würde. Da Tisza jedoch daraus eine Kabinettsfrage machte, erfolgte 29. Jan. 1889 die Annahme. Schon vorher, Febr. 1887, hatte sich Tisza infolge der Opposition, die eine Anleihe von 52 Mill. Fl. fand, in die Notwendigkeit versetzt gesehen, den Finanzminister Szapáry fallen zu lassen und selbst die Leitung der Finanzen zu übernehmen. Durch Sparsamkeit, Einführung der Branntweinsteuer und die Konversion der fünfprozentigen Goldrente in eine vierprozentige gelang es Tisza in der That, den Zustand der Finanzen wesentlich zu verbessern, worauf 9. April 1889 der bisherige Staatssekretär Wekerle zum Finanzminister ernannt wurde. Zugleich wurde eine Neuorganisation des Kabinetts vorgenommen, in dem Graf Szapáry das Ackerbau- und Handelsministerium übernahm.

Die Angriffe auf die Person Tiszas erneuerten sich bei der Eröffnung des Reichstags im Herbst 1889 in noch leidenschaftlicherer Weise, als die äußerste Linke zu Gunsten Kossuths eine Abänderung des Heimatsgesetzes von 1879 verlangte, wonach das ungar. Staatsbürgerrecht durch zehnjährige Abwesenheit verloren geht. Tiszas Versuch zum Entgegenkommen scheiterte an dem Widerspruch der übrigen Minister, und nunmehr nahm er 13. März 1890 seine Entlassung. Sein Nachfolger als Ministerpräsident wurde der Ackerbauminister Graf Szapáry, der zugleich die Leitung des Ministeriums des Innern übernahm. Szapáry erklärte bei der Darlegung des Regierungsprogramms (17. März) ausdrücklich, daß das Ministerium an den bisherigen Grundsätzen festhalte, und kündigte bestimmt die Verstaatlichung der Verwaltung an. Als er aber 6. März 1891 einen dem entsprechenden Reformentwurf vorlegte, bekämpfte ihn die äußerste Linke aufs entschiedenste und brachte es durch ihre Obstruktionstaktik dahin, daß sich die Debatte über den §. 1 der Vorlage zwei Monate lang hinzog. Zwar wurde er 6. Aug. mit 164 gegen 69 Stimmen angenommen; da aber die Geschäftsordnung kein Mittel bot, die Obstruktion der Opposition zu verhindern, zog Szapáry die Vorlage zurück. Bessere Erfolge erzielte die Regierung auf wirtschaftlichem Gebiete, wo durch Einführung des Zonentarifs auf den Staatsbahnen der Verkehr bedeutend gesteigert und durch Sprengungen am Eisernen Thor (s. d.) die Donauschiffahrt gehoben wurde. Außerdem wurden mit Deutschland, Italien, Belgien und der Schweiz Handelsverträge geschlossen und die Valutaregulierung im Verein mit Österreich energisch in Angriff genommen. (S. Österreichisch-Ungarische Monarchie, Geschichte.)

Das wichtigste Ereignis im ungar. Staatsleben, das Regierung und Parlament während der nächsten Jahre in Aufregung erhalten sollte, die kirchenpolit. Gesetzgebung, warf ihre Schatten schon voraus in dem Streit um die sog. Wegtaufungen. Durch Gesetz von 1868 bestand in U. die Bestimmung, daß bei gemischten Ehen die Knaben der Konfession des Vaters, die Mädchen der der Mutter folgen sollten. Um diesem Gesetz, das vielfach umgangen wurde, Geltung zu verschaffen, hatte der Kultusminister Graf Csaky 26. Febr. 1890 eine Verordnung erlassen, wonach die Geistlichen, die ein nicht ihrer Kirche zugehöriges Kind tauften, verpflichtet sein sollten, dies dem Geistlichen der andern Konfession binnen acht Tagen mitzuteilen, damit dieser das Kind in seine Matrikel eintragen könne. Diese Verordnung fand den heftigsten Widerstand bei der kath. Geistlichkeit, doch ließ sich die Regierung nicht beirren, vielmehr erklärte der Justizminister Szilágyi im Abgeordnetenhause, daß eine kirchenpolit. Gesetzgebung in Vorbereitung sei, die das Verhältnis zwischen Staat und Kirche nach modernen Grundsätzen ordnen solle. Indessen sollte es dem Kabinett Szapáry nicht beschieden sein, diese Reform durchzuführen. Das chauvinistische Gebaren der magyar. Radikalen, die einen großen Zwist über die Enthüllungsfeierlichkeit des Honved-Denkmals in Ofen hervorriefen, wobei Szapáry nicht energisch genug den Standpunkt der Regierung vertrat, entzogen ihm das Vertrauen des Monarchen, der Budapest, wo er 8. Juni 1892 sein 25jähriges Krönungsjubiläum gefeiert hatte, in demonstrativer Weise verließ. Bald darauf (9. Nov.) teilte Graf Szapáry dem Abgeordnetenhause mit, daß er für die Einführung der obligatorischen Civilehe nicht die Zustimmung des Königs gefunden und deshalb seinen Abschied eingereicht habe. An seiner Stelle wurde 14. Nov. der Finanzminister Wekerle mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt. Am 26. April 1893 legte dieses im Abgeordnetenhause zwei Gesetzentwürfe vor, von denen der eine die Reception der israel. Religion, der andere die obligatorische Einführung der Civilstandsregister betraf. Es folgten 17. Mai eine Vorlage über freie Religionsübung und 2. Dez. zwei weitere über Einführung der obligatorischen Civilehe und über die Religion der Kinder aus Mischehen, worüber die Entscheidung den Eltern völlig anheimgestellt wurde. Während diese Anträge im Abgeordnetenhause begeisterte Zustimmung fanden, stießen sie bei den Magnaten auf energischen Widerstand. Trotzdem wurde die Ehegesetzvorlage 18. April 1894 im Ab-^[folgende Seite]