Schnellsuche:

Kochschule und Ratgeber für Familie & Haus

Autorenkollektiv, Verlag von Th. Schröter, 1903-1905

Diese Seite ist noch nicht korrigiert worden und enthält Fehler.

 107 
Und nun, junges Hausfrauchen, wünsche ich guten Erfolg und auf der ganzen Linie  geleerte Plattenl
Pas Kochbuch.
Als ein blutjunges Ding war Lina in die Stadt gekommen. Sie hatte ein Jahr lang die Fabrik besucht und war auch in den Feldarbeiten nicht unbewandert. Die Hausgefchäfte und die Küche dagegen waren ihr ziemlich fremd geblieben, teils weil es zu Hause nicht viel zu kochen gab, teils weil das Notwendige immer noch die Mutter besorgte. Auch an Reinlichkeit und gute Ordnung mußte das Mädchen erst gewöhnt werden, und es war gut, daß die Frau Stadtrat, bei der es in Dienst getreten war, eine große Geduld mit ihm hatte. Denn in der "besseren Küche" ist es durchaus nicht gleichgültig, wieviel Mehl oder Salz oder Pfeffer man in die Speisen wirft. Auch der Schüttstein fühlt sich nicht verpflichtet, alles und jedes zu schlucken, und er sollte in der Tat etwas zierlicher aussehen, als das steinerne Tröglein, aus dem man zu Hause die bekannten wohlriechenden Vierfüßler füttert. Der Gasherd endlich ist nicht nur bequem, sondern auch heikel, und wenn man die Hahnen nachlässig schließt, so lann das üble Folgen haben. Aber die Frau Stadtrat hatte, wie gesagt, eine große Geduld, und unter ihrer weisen Leitung reifte Lina zu einem dienstbaren Geist erster Güte heran. Frisch und fröhlich besorgte sie ihr Tagwerk, und da die bessere Küche auch bei ihr selber angeschlagen hatte, so strahlten ihre Augen und ihre Wangen von Gesundheit und Lebenslust. Mit der wachsenden Tüchtigkeit stieg auch der Lohn von einem Jahr zum andern, und wenn Lina das Sparheft betrachtete, das die Frau Stadtrat ihr besorgt hatte und das jeden Monat Zuwachs bekam, dann fühlte sie sich als kleine Kapitalistin. Das ging so bis ins vierte Jahr, und es war alles gut, bis Lina einmal einen Besuch machte bei ihrer älteren Schwester, die in Zürich diente. Die Schwester sprach zu ihr so eindringlich von den Herrlichkeiten der Großstadt und von ihrer vornehmen Stellung in dem großen Herrschaftshause, daß in Lina ein brennender Ehrgeiz erwachte, es auch einmal so schön zu haben. Sie entdeckte plötzlich, daß sie eigentlich viel zu gut sei für ihre bisherige Stellung und daß es Überhaupt unter den heutigen Verhältnissen beinahe als eine Schande gelten müsse, wenn man mehr als drei Jahre bei derselben Gebieterin bleibe. Aber wie von der bisherigen Stelle loskommen? Die Frau Stadtrat war ja so gut und gerecht in allen Dingen, und hatte mit einer fast mütterlichen Liebe von jeher für das unerfahrene Mädchen gesorgt. Irgend ein anständiger Grund zur Kündigung ließ sich mit dem besten Willen nicht finden, und zu Linas
Ehre dürfen wir sagen, daß in ihrem Herzen die Anhänglichkeit und die kindliche Dankbarkeit ein starkes Gegengewicht bildete gegen die Versuchung, die in Gestalt ihrer Schwester an sie herangetreten war. Sie äußerte derselben ihre Bedenken brieflich, erhielt aber bald darauf eine klassische Antwort, die ungefähr so lautete: "Liebe Lina! Wegen der Kündigung brauchst du dich nicht zu grämen. Deine Stadträtin hat dich lange genug ausgenützt, und du darfst ihr wohl einmal zeigen, daß du auch einen eigenen Willen haft. Gerade jetzt wüßte ich dir hier in Z. einen ausgezeichneten Platz, der bis in vier Wochen besetzt werden sollte. Ich habe dich schon angemeldet, und die Dame erwartet nur nur noch deine Zusage. Ich gebe dir also folgenden guten Rat: Mach, daß du bei der nächsten Gelegenheit mit der Frau Stadtrat einen ordentlichen Krach bekommst  du kannst ja nötigenfalls ein paar Tassen zerschlagen  und sobald sie dir dann grob kommt, kannst du ihr aufkünden. Aber, daß ich es nicht vergesse: bevor du nach Z. kommst, solltest du aus ihrem famosen Kochbuch, das ich einst bei Euch gesehen habe, noch einige Rezepte abschreiben, besonders was Geflügel und Backwerk betrifft; das wird eben hier verlangt. Ich freue mich sehr, bis du kommst. Unterdessen grüßt dich herzlich deine geliebte Schwester Frieda."
AIs Lina diesen Brief in der Küche gelesen hatte, ertönte gerade die Hausglocke, und sie eilte die Treppe hinunter, um zu öffnen. Gedankenlos oder vielmehr gedankenvoll ließ sie zuvor den geöffneten Brief auf den Küchentisch gleiten, und während sie unten mit dem Metzgerburschen eine ganz kurze Unterhaltung pflog und ihm mit Selbstgefälligkeit von ihren hohen Aussichten erzählte, führte oben das Fatum die Frau Stadtrat in die Küche. Sie sah den Brief und las ihn, was keine Kunst und in diesem Falle wohl auch kein Verbrechen war.  Nun frage ich die geehrte Leferin, was sie an Stelle der Frau Stadtrat gemacht hätte? Ich weiß eine, die zu allererst das Kochbuch in den hintersten Winkel der verborgensten Schublade versteckt hätte. Ich sehe in Gedanken eine andere Dame, wie sie der bestürzten Lina eine ergreifende Predigt hält von schmählicher Undankbarkeit und von den Versuchungen des bösen Feindes, bis die Lina dasteht in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle und allen Auswanderungsgelüsten gründlich entsagt hat. Ich sehe in Gedanken noch eine dritte Frau, die es vorzieht, die Lina bei langsamem Feuer zu rösten, will sagen: sie tut zunächst so, als ob sie garnichts gemerkt hätte; sie ist gegen Lina noch freundlicher als zuvor; sie weiß jeden offenen Zwist zu vermeiden; aber bei jeder Gelegenheit versteht sie es, das arme Mädchen zu quälen, zu ärgern und zu kränken mit einer Raffiniertheit, die den Folterknechten des Mittelalters alle Ehre gemacht hätte. Lina ist gerührt von der