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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Deutschland

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Deutschland (Geschichte 1814-1815. Gründung des Deutschen Bundes).

Teil seines Gebiets an die Westgrenze Deutschlands verlegt wurde, war für die künftige Haltung der preußischen Politik und die Entwickelung Deutschlands von den wichtigsten Folgen. Hessen-Darmstadt, Nassau, Baden und Württemberg blieben in den von Napoleon geschaffenen Grenzen. Bayern trat Tirol und Salzburg an Österreich ab, behielt aber die althohenzollerischen Fürstentümer Ansbach und Baireuth und bekam Würzburg und die Rheinpfalz; von der letztern abgesehen, bildete es fortan einen kompakten, wohlabgerundeten Staat. Österreich verzichtete auf seinen frühern Besitz am Oberrhein, erlangte aber (außer Tirol und Salzburg) Galizien, Illyrien, Dalmatien und Istrien zurück und dazu das Lombardisch-Venezianische Königreich. Es gewann damit im mittlern Donaugebiet, zu beiden Seiten der Alpen und in Italien eine herrschende Stellung, die hier durch die Wiederherstellung seiner Sekundogenituren in Modena und Toscana verstärkt wurde.

Österreich zog sich aus D. möglichst zurück und gab damit zu erkennen, daß es auf eine unmittelbare Herrschaft über D. durch Erneuerung der Kaiserwürde zu verzichten gesonnen sei. Diese ward in der That bei den Verhandlungen über die D. zu gebende Verfassung ausgeschlossen, obwohl die kleinern deutschen Staaten sie ausdrücklich beantragten. Die größten Schwierigkeiten bereiteten in der deutschen Verfassungsfrage die Regelung des Verhältnisses der beiden deutschen Großmächte und der Widerspruch der größern Mittelstaaten, Bayerns, Württembergs und Hannovers, gegen jede starke Zentralgewalt. Trotz seiner glänzenden Heldenthaten im Befreiungskrieg konnte Preußen unmöglich auf die Hegemonie Anspruch machen; dem standen die Vergangenheit, nicht am wenigsten auch die preußische Politik 1795 bis 1806 und die Eifersucht der andern deutschen Dynastien entgegen. Mehr als eine Ehrenstellung wollte Preußen aber Österreich über sich nicht einräumen, da dieses die deutschen Interessen wirksam zu wahren und eine rein deutsche Politik zu treiben weder willens noch in der Lage war. D. unter die Herrschaft von Österreich und Preußen zu teilen und den Dualismus damit zu verewigen, widerstrebte allen patriotischen Männern aufs äußerste. So kam man denn auf den Ausweg, die Rivalität der Großmächte dadurch abzustumpfen, daß man ihren Einfluß auf die Bundesgewalt verringerte, sie nur mit einem Teil ihres Gebiets in den Bund eintreten ließ und die Mittel- und Kleinstaaten mehr an der obersten Leitung beteiligte. Hierdurch wurde das Streben der Mittelstaaten, die Befugnisse der Zentralgewalt möglichst zu verringern und den Bund zu einem bloß völkerrechtlichen Verein zu machen, begünstigt, und als Napoleons Landung in Frankreich zu einem schleunigen Abschluß drängte, begnügte man sich endlich, um nur etwas zu stande zu bringen, mit einem Minimum; selbst das Bundesgericht wurde in letzter Stunde fallen gelassen. Man tröstete sich damit, daß es besser sei, einen unvollkommenen Bund zu bilden als gar keinen, und daß derselbe keine Verbesserung ausschließe; die unbefriedigten Erwartungen der Nation werde die Zukunft erfüllen.

Der Deutsche Bund.

Die Bundesakte vom 9. Juni 1815 sagte in ihrem 1. und 2. Artikel: "Die souveränen Fürsten (die Könige von Bayern, Sachsen, Hannover und Württemberg, der Kurfürst von Hessen, die Großherzöge von Hessen, Sachsen, Baden, Mecklenburg und Oldenburg, die Herzöge von Sachsen [4], von Anhalt [3], Braunschweig und Nassau, die Fürsten von Schwarzburg, Reuß, Lippe, Hohenzollern, Liechtenstein und Waldeck) und die Freien Städte (Lübeck, Bremen, Hamburg und Frankfurt a. M.) mit Einschluß des Kaisers von Österreich und des Königs von Preußen, beide für ihre gesamten vormals zum Deutschen Reiche gehörigen Besitzungen, ferner der König von Dänemark für Holstein, der König der Niederlande für Luxemburg vereinigen sich zu einem beständigen Bund, welcher der Deutsche Bund heißen soll. Zweck desselben ist die Erhaltung der äußern und innern Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten." Die Angelegenheiten des Bundes besorgte eine Bundesversammlung (Bundestag), welche aus den Gesandten der Staaten bestand, in der Österreich den Vorsitz führte, und die in Frankfurt a. M. tagte (über ihre Geschäftsordnung s. den Art. "Deutscher Bund"). Streitigkeiten der Bundesglieder sollten durch Vermittelung des Bundes und, wenn diese fehlschlage, durch eine Austrägalinstanz beigelegt werden. In allen Bundesstaaten sollte eine landständische Verfassung bestehen, ebenso Gleichberechtigung der christlichen Religionsparteien. Als nächste Aufgaben der Bundesversammlung wurden die Abfassung der Grundgesetze des Bundes und dessen organische Einrichtung in Rücksicht auf seine auswärtigen, militärischen und innern Verhältnisse sowie Vereinbarungen über Preßfreiheit und Sicherstellung des Verlags- und Autorrechts und über Regelung des Handels und Verkehrs bezeichnet.

Unzweifelhaft ließ diese Akte viele berechtigte Wünsche der Nation, sowohl was Einheit als was Freiheit betraf, unbefriedigt und entsprach weder der geistigen Entwickelung des deutschen Volkes, das in dem mächtigen Aufschwung der schönen Litteratur und der Wissenschaften eine den ersten Kulturvölkern ebenbürtige Bildung und ein Anrecht auf freie und nationale politische Institutionen erworben hatte, noch den großen Opfern, die im Befreiungskrieg an Blut und Geld gebracht worden waren. Dennoch war der Bund lebens- und entwickelungsfähig, wenn der gute Wille, welchen die Regierenden bei seiner Begründung bekundeten, auch in der Zukunft ernst und aufrichtig bethätigt wurde und die Stimme der Nation, wie sie sich in der Presse und der Litteratur äußerte, die gebührende Berücksichtigung fand. Namentlich das Versprechen landständischer Verfassungen in den Einzelstaaten mußte ehrlich erfüllt werden. Dies geschah aber nur in wenigen Mittel- und Kleinstaaten, wie Sachsen, Weimar, Baden, Bayern, Württemberg, vor allem nicht in Österreich und Preußen, obwohl der König Friedrich Wilhelm III. durch seinen Erlaß vom 22. Mai 1815 die Berufung von Reichsständen mit konstitutionellen Rechten ausdrücklich versprochen hatte. Anfangs waren es die Schwierigkeiten der Neuorganisation der Verwaltung, welche die Ausführung des Versprechens in Preußen verzögerten. Bald aber machte sich der unheilvolle Einfluß reaktionärer, konterrevolutionärer Strömungen, welche von Österreich und Rußland mit Eifer unterstützt wurden, in D. und Preußen immer mehr bemerkbar. Alle lebhaftern Äußerungen liberalen und nationalen Geistes von seiten der Männer der Wissenschaft und der studentischen Jugend wurden von den Häuptern der Reaktion in Preußen, Tzschoppe, Kamptz und Schmalz, von den österreichischen Staatsmännern Metternich und Gentz und von den russischen Agenten Kotzebue und Stourdza ausgebeutet, um die deutschen Regierungen einzuschüchtern, ihnen Furcht vor einer gewaltsamen Umwälzung einzujagen und sie