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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Afghanistan

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Afghanistan (politische Verhältnisse, Sprache etc.; Geschichte).

wohl zum verworfensten Volk der indogermanischen Sprachengruppe herabgesunken. Ihr niedriger Sinn äußert sich hauptsächlich in Treubruch, in Betrügereien und Diebstählen. In Sachen der Religion affektieren die Tadschik die größte Verehrung vor den Geboten des Korans, doch nur, solange sie sich in Gegenwart Strenggläubiger befinden. Kriechend im Umgang, vergessen sie doch nie, für sich zu sorgen. Sie leben hauptsächlich in den Städten oder in ihrer Nähe und sind gewandte Kaufleute mit Verbindungen bis weit nach Innerasien hinein.

Sitz der Reichsregierung, des Emirs (aus Amir verderbt), ist Kabul im NO. des Landes. Zum Zweck der Verwaltung ist das Reich in Provinzen, diese in Kreise abgeteilt. Ein Ziviloberbeamter sorgt für die Steuereinhebung, für öffentliche Ruhe und ist Vorsitzender der Appellhöfe; Befehlshaber des Heers ist ein General, dem zugleich die Ausführung der Befehle des Ziviloberbeamten obliegt; oft sind beide Ämter vereinigt. Neben dem allgemeinen mohammedanischen Gesetz des Korans gilt ein altes rohes Gewohnheitsrecht (Puschtunwalle); Selbsthilfe ist zwar verboten, aber der Hang hierzu noch nicht ausgerottet. Die Strafrechtspflege ist willkürlich, wie in allen mohammedanischen Staaten; doch ist unter den Afghanenstämmen das althergebrachte Recht auf Mitwirkung des Volks in der Rechtsprechung noch nicht erloschen, sondern wird bis zur Stunde geübt. Das Heer besteht schon seit Mitte des vorigen Jahrhunderts aus einem besoldeten Stamm als Kern, an den sich im Krieg das Aufgebot der waffenfähigen Mannschaft anschließt. Organisation wie Bewaffnung wurden unter dem jetzigen Emir europäisch; die englischen Bezeichnungen Colonel (Oberst), Major und Adjutant sind als Kernel, Medgir und Adjodan Titel der entsprechenden Chargen. Alle Regimenter führen Musketen, nur wenige Tausende sind darunter Vorderlader oder gar Luntenflinten. Die Armee zählt rund etwa 50,000 Mann mit 123 Feldgeschützen. Doch fehlte es im Krieg von 1878 bis 1880 noch an gebildeten Offizieren.

Hauptbeschäftigung der Einwohner bilden Ackerbau und Viehzucht. Die Ackerbauer stehen in verschiedenem Verhältnis zu dem von ihnen bebauten Boden. Manche sind Grundeigentümer; vielfach ist das Besitztum klein, da nach mohammedanischem Gesetz beim Absterben des Vaters das Grundvermögen unter alle Söhne geteilt wird. Das erbliche Recht am Boden hat seinen Grund teils in der ursprünglichen Verteilung innerhalb der Familienverbände bei der Besitzergreifung, teils in Urbarmachung, teils in Ankauf oder in Schenkungen von seiten der Fürsten. Bei größerm Grundbesitz geschieht das Austhun entweder gegen Geld oder gegen einen Teil des Ertrags; auch kommt ein Meierverhältnis vor, wobei der Eigentümer Saatkorn, Vieh und Ackergeräte gegen einen ausbedungenen Teil des Ertrags stellt. Die Gewerbe liefern Waffen, deren Güte und Mannigfaltigkeit sich durch Errichtung einer Artilleriewerkstätte in Kabul steigerten, grobe Tücher aus Schafwolle und Kamelhaaren und dauerhafte Baumwollstoffe. Seidenstoffe und alle bessern Gegenstände im Haushalt wie für den Anzug bringt der Handel ins Land, der sich fast ganz in den Händen der Tadschik und der Fremden (Hindu und Armenier) befindet. Es treten hierin Rußland von Turkistan aus und England von Indien aus in Mitbewerbung. Man trifft auf den Märkten viele russische Waren, aber Zahlen fehlen noch über die Höhe des Umsatzes mit Turkistan; mit Indien wertete dagegen der Handel 1877 vor Ausbruch des englisch-afghanischen Kriegs 32 Mill. Mk., ging zwar unter den Kriegswirren auf die Hälfte herunter, hob sich aber dann wieder und ward lebhafter als früher, da der Emir für die Sicherheit der Karawanen sorgt und eine Postverbindung mit Indien eingerichtet hat. Die Hauptabgabe an den Emir besteht in einer Grundsteuer; dazu kommen Stadt- und andre Zölle, besonders Durchgangszölle, der Ertrag der Krongüter, Überschuß der Münze, Geldstrafen und Tribute. Leider greifen Fürst wie Beamte auch zu Erpressungen zur Füllung ihrer Kassen.

Die afghanische Sprache, welche sich selbst als Paschtu oder Puschtu bezeichnet, ist nach Trumpp und Spiegel eine selbständige Sprache, welche an den Flexionsgesetzen und dem Wortschatz der indischen wie iranischen Sprachengruppe teilnimmt, jedoch vorwiegend indisches Gepräge zeigt und am nächsten an die neuindischen Sprachen angeschlossen wird. Vgl. Dorn in den "Mémoires de l'Académie de St.-Pétersbourg 1850"; dann die umfassendern grammatischen wie lexikalischen Arbeiten Ravertys ("Grammar of the Pushto", 3. Aufl., Lond. 1867; "Dictionary". 2. Aufl., das. 1867, und "Pushto manual", das. 1880); Bellews Grammatik und Lexikon (beides das. 1867) und vor allem des Deutschen Trumpp "Grammar of the Pashtu, or language of the Afghans" (das. 1873). Die Sprache zerfällt in verschiedene, in manchen lautlichen Dingen sehr abweichende Dialekte. Die Litteratur ist weder sehr umfangreich noch selbständig, sondern in ihrem Geiste durch den Islam, in ihren Formen durchweg durch persische Vorbilder bestimmt. Ein Bild derselben geben die Sammelwerke von Dorn ("Chrestomathy of the Pushtu", Petersb. 1847), von Raverty ("The Gulshan-i-Roh, being selections prose and poetical", 2. Aufl., Lond. 1867; "Selections", das. 1867) und Trumpp in der "Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft" (Bd. 21 u. 23).

Früher bildete jeder Stamm innerhalb des von ihm bewohnten Gebiets ein Gemeinwesen für sich, das seine Angelegenheiten in republikanischen Formen durch Älteste und Ausschüsse verwaltete. Es gab dem Namen nach ein gemeinsames Oberhaupt mit der Residenz in Kabul; aber wenn nicht die Aussicht auf einen glücklichen Raubzug in das benachbarte Indien winkte, konnte der Herrscher auf Gehorsam und Heeresfolge nicht zählen. Dies änderte sich mit dem Übergang der indischen Grenzprovinz Pandschab von den Sikhs in die starke Hand Englands (1845). Die Zeit der Einfälle großen Stils nach Indien ist von nun an vorüber, die alte volkstümliche Verwaltung gefallen. A. ist ein despotisch regierter Staat und zerfällt in folgende Provinzen. Südlich des Hindukusch liegen: a) Kabul, das Quellgebiet des Flusses gleichen Namens, die Ausläufer des Hindukusch, umfassend; b) Ghasni, wozu die Hochthäler südlich von Kabul, westlich bis Indien gehören; c) Kandahar, der Südosten, d) Seïstan, der Südwesten des Landes; e) Herat oder das Thal des Heri Rud. Nördlich des Hindukusch liegen (von W. nach O.) Maimana (erobert 1883), Turkistan, Badachschan und Wakhan. Jeder Provinz steht ein Zivilgouverneur vor mit einem Stab von Beamten und Generalen.

Geschichte. A., im Altertum nur Durchzugsland der verschiedensten Völker auf ihren Wanderungen und Kriegsunternehmungen gegen Indien, war von arischen Stämmen bevölkert. Zur Zeit der Blüte des Ormuzd-Glaubens Zoroasters (Zarathustras), der altpersischen Religion, waren die Hauptsitze dieser