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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Belgien

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Belgien (Geschichte 1860-1873).

Kammer im wesentlichen genehmigt hatte, befürchtete, auf so große Unzufriedenheit, daß dort 1863 anstatt der bisherigen Abgeordneten, unter ihnen Rogier selbst, nur oppositionelle gewählt wurden. Überhaupt war der Ausfall der Wahlen 1863 infolge der Umtriebe der Klerikalen dem Ministerium so ungünstig, daß dasselbe im Januar 1864 seine Entlassung nahm. Nach längerer Ministerkrisis, während welcher die Bildung eines klerikalen Kabinetts fehlgeschlagen war, blieb das Ministerium Rogier; ein von Nothomb beantragtes Mißtrauensvotum fiel mit Einer Stimme durch, das rückständige Budget wurde genehmigt. Neue Streitigkeiten entstanden, als der liberale Abgeordnete von Brüssel, Orts, ein neues Wahlgesetz beantragte, das eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten bezweckte. Da dessen Annahme zunächst für die liberale Partei vorteilhaft sein mußte, so machte die Rechte durch ihre Sezession aus der Kammer einen Beschluß unmöglich (1. Juli 1864). Infolgedessen wurden Neuwahlen angeordnet, welche günstig für das Ministerium ausfielen, indem 64 Liberale gegen 52 Klerikale gewählt wurden. Die befestigte Majorität bewilligte nun die Geldmittel für die Vollendung der Befestigung Antwerpens.

Am 10. Dez. 1865 starb, allgemein betrauert, König Leopold I.; 17. Dez. legte der neue König, Leopold II., seinen Eid auf die Verfassung ab. Er sprach dabei nicht nur seinen aufrichtigen Willen aus, die streng konstitutionelle Haltung seines Vaters beizubehalten, sondern betonte auch mit besonderm Nachdruck die Wahrung der Unabhängigkeit der Nation. Die liberale Partei, welche im Ministerium durch den Eintritt Baras an die Stelle von Tesch verstärkt worden war, brachte nun endlich 24. März 1866 den Ortsschen Antrag durch. Als im Frühjahr 1867 die Luxemburger Frage auftauchte, nahm B. an der zur Schlichtung derselben zusammengetretenen Londoner Konferenz teil, ohne aber die Garantie für die Neutralität Luxemburgs zu unterzeichnen. Die Besorgnis vor den französischen Annexionsgelüsten war in B. seit den Ereignissen in Deutschland 1866 gestiegen; man fürchtete, B. werde ein Kompensationsobjekt bei einer Verständigung zwischen Frankreich und Preußen abgeben müssen. Der Gedanke einer Heeresreform fand daher auch in der Kammer Anklang, und nachdem im Mai 1867 der Regierung für diesen Zweck ein Kredit von 60 Mill. bewilligt worden war, wurde im April 1868 das Jahreskontingent von 10,000 auf 12,000 Mann, die Präsenzzeit auf 30 Monate erhöht. Beunruhigend war eine Zeitlang der im Februar 1869 ausgebrochene Eisenbahnstreit zwischen Frankreich und B., welcher darin seine Ursache hatte, daß die belgische Regierung dem Übergang der Luxemburger Eisenbahn an die Compagnie de l'Est français entgegentrat. Doch wurde (trotz der anfänglich drohenden Stellung Frankreichs) der Streit durch persönliche Unterhandlungen zwischen der französischen Regierung und Frère-Orban, der seit 1867 an Rogiers Stelle getreten war, glücklich beigelegt, nachdem das belgische Ministerium im Februar 1869 durch ein besonders von den Kammern gebilligtes Gesetz sich für die Zukunft das Recht der Genehmigung solcher Abtretungen gesichert hatte.

Nach 13jährigem erfolgreichen Wirken mußte das Kabinett 2. Juli 1870 zurücktreten, da die Ergänzungswahlen (17. Juni) infolge des Hochdrucks der Klerikalen ungünstig ausgefallen waren. An seine Stelle trat das katholische Ministerium d'Anethan, welches sich durch angeordnete Neuwahlen die Majorität in der Kammer sicherte. Der deutsch-französische Krieg gebot innere Ruhe, und so scheute man eine neue Ministerkrisis. Zur Aufrechterhaltung des Friedens an den Grenzen und der Neutralität wurde ein Kredit von 15 Mill. Fr. verlangt, die Armee mobil gemacht und 9. Aug. 1870 ein besonderer Vertrag durch Englands Vermittelung geschlossen, in welchem Frankreich und Preußen diese Neutralität aufs neue anerkannten. Die belgische Regierung erfüllte auch auf die loyalste Weise die Pflichten, welche aus dieser Stellung gegenüber den kriegführenden Mächten hervorgingen, obwohl die Bevölkerung wiederholt französische Sympathien an den Tag legte. Der von dem Kabinett eingebrachte Gesetzentwurf, wonach das Wahlrecht in demokratischem Sinn umgeändert und dadurch vom Klerus abhängig werden sollte, wurde trotz heftiger Opposition der liberalen Partei angenommen. Indessen mußte doch das Kabinett abtreten infolge der Ernennung Peter de Deckers zum Gouverneur von Limburg, eine Ernennung, welche allgemein böses Blut machte, weil de Decker in den Langrand-Dumonceauschen Finanzschwindel verwickelt war. Obgleich der Antrag Baras, daß die Kammer die Anstellung de Deckers bedaure, durchfiel, konnte sich doch das Ministerium, dessen Präsident d'Anethan selbst sich an dem Langrandschen Geschäft beteiligt hatte, nicht länger halten. Die Straßentumulte in Brüssel nahmen täglich zu, und so entließ der König 1. Dez. 1871 das Ministerium d'Anethan und berief ein etwas gemäßigteres klerikales Kabinett unter de Theux, dem, als er 1874 starb, d'Aspremont-Lynden folgte; das begabteste Mitglied des Ministeriums war Malou. Die Heeresreform vermochte das neue Ministerium nicht gründlich durchzuführen, gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nach deutschem Muster sträubte sich die herrschende Partei. Das neue Militärgesetz, das General Thiébault, der Kriegsminister, 1873 den Kammern vorlegte, suchte daher nur die Schäden des Stellvertretungswesens abzuschwächen und wurde, obwohl es 4 Mill. Mehrkosten verursachte, von den Kammern angenommen. Den meist ultramontanen Vlämen wurde das Zugeständnis gemacht, daß in den vlämischen Provinzen die vlämische Sprache vor Gericht zulässig sein solle.

Der lange zurückgedrängte Klerus machte sich nun die Herrschaft der ultramontanen Partei zu nutze, um in B. das Ideal eines ultramontanen Staats zu verwirklichen. Er beherrschte das ganze Volksschulwesen, hatte seine besondern von Jesuiten geleiteten Gymnasien und eine eigne Universität, welche Anstalten weit stärker besucht waren als die vom Staat geleiteten. Die Zahl der Klöster war binnen 20 Jahren von 779 mit 11,968 Mönchen und Nonnen auf 1700 mit 22,600 Mönchen und Nonnen gestiegen, und in diesen Klöstern wurde die ganze weibliche Jugend aller Stände erzogen. Die Gemeinderats- und Kammerwahlen waren großenteils von dem Klerus abhängig. Die Gesetze wurden von den Klerikalen nur so weit respektiert, als sie ihren Grundsätzen entsprachen. So wurden 1873 von den Kirchhöfen, die in B. Gemeindeeigentum ohne konfessionellen Charakter sind, wiederholt solche Tote, welche im Leben sich der Kirche nicht gefügt hatten, ausgeschlossen oder nur unter beleidigenden Formalitäten zugelassen und eine Beschwerde darüber von der Kammer zurückgewiesen. Die Ursache dieser Mißstände lag in dem in die Verfassung aufgenommenen sehr bedenklichen Grundsatz von der Selbständigkeit der Kirche, von der Trennung der Kirche vom Staat, einem Grundsatz, welcher jahrzehntelang als staatsmännische Weisheit und als ein besonderer Vorzug Belgiens galt. So