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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ethnographie

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Ethnographie (Religion, Trachten, Familie, Staat etc.).

scheinen, die aber in ihrer Gesamtheit die Lehre vom Menschen mit aufbauen helfen. Wir erwähnen z. B. als dahin gehörig: die Begrüßungen sehr verschiedener Art, wie das Nasenreiben mancher nordischer und Südseevölker; die Eidesformen (Schwören bei Steinen, beim Bären in Sibirien); die Gastfreundschaft, die bei verschiedenen Völkern bis zum Mitgenuß der Frau durch den Gastfreund ausgedehnt wird; das Tabu, ein religiöser Bann, der auf Menschen und Dinge, namentlich in der Südsee, sich erstreckt; die Blutrache, noch als Vendetta auf Corsica bekannt, bei Albanesen, Arabern und vielen Völkern noch vorhanden, aber oft ablösbar durch Buße (Wergeld der Germanen); der Zweikampf, selbst unter den Naturvölkern vorkommend, und die Gottesgerichte oder Ordalien, die im Trinken des giftigen Tangina auf Madagaskar oder des Nkassa (einer Strychnos) in Westafrika viele Opfer fordern; die Geschlechtsgenossenschaft in ihren verschiedenen Stadien: von der Promiscuität und Polygamie bis zur Monogamie, die Exogamie (Nehmen der Frauen aus fremdem Stamm), die Endogamie (Nehmen der Frau aus dem eignen Stamm), die Polyandrie (Vielmännerei in Tibet, Indien), der Frauenkauf und Frauenraub, die Mitgift, die Verlobungs- und Hochzeitsgebräuche. Die Keuschheit ist bei vielen Völkern nicht geschätzt und namentlich das Mädchen vor der Verheiratung im geschlechtlichen Verkehr völlig ungebunden, während bei der Frau, sobald sie Eigentum des Mannes wird, die strengste Treue verlangt wird. Die Gebräuche bei Schwangerschaft und Niederkunft, Abortus und Kindermord, die wunderbare Sitte der Couvade oder des Männerkindbetts, wo der Mann sich ins Wochenbett legt (bei Iberern, Basken, Südfranzosen, Miaotse, Südamerikanern), die Taufe oder deren Substitute, die sehr weit verbreitete und in verschiedenen Formen vorkommende Beschneidung, der Kannibalismus, die Stellung der Geisteskranken, die Kriegsgebräuche, die Leichenzeremonien und Bestattungsgebräuche, die Trauer und der Totenkultus, diese alle sind hier zu berücksichtigen.

Wie Sitten und Gebräuche, gehören auch Ideenwelt, Glaube und Religion eines Volkes in den Rahmen der E. Um ein Volk kennen zu lernen, muß man sich mit seinem Denken vertraut machen. Seine Auffassung der Dinge, die Eigenschaften und Kräfte, welche es ihnen beilegt, sein Glaube und Aberglaube bestimmen seine Handlungen. Nur eine genaue Kenntnis der Anschauungen eines Volkes gibt uns die Mittel zum Verständnis seiner Entschließungen, seines ganzen Verhaltens und läßt uns den Geist seiner Institutionen erfassen. Die E. hat hier unter anderm zu berücksichtigen die kosmogonischen Vorstellungen und Systeme der Völker, ihre Erklärung der Naturerscheinungen (der Gestirne, Erdbeben), ihren Glauben an Geister und Götter, die Vorstellungen von der Seele und von einem künftigen Leben, die Anbetung der Naturkräfte (Naturalismus), den Fetischdienst, den Götzen- oder Bilderdienst und den Reliquienkultus, den Schamanismus, Polytheismus, Dualismus und Monotheismus, die Konfessionen, Sekten und kirchlichen Gebäude, die Priester, den Kultus, Ritus und die Zeremonien, den Aberglauben in seinen mannigfachen Formen. - Schmuck, Kleidung, Tättowierung, Abzeichen, Bemalung, Waffen, Geräte, Haar- und Barttracht, künstliche Verunstaltungen (Verlängerung des Ohrläppchens, Flachdrücken der Nase und des Schädels, Feilen der Zähne, Verkrüppelung der Füße) aus falschem Schönheitsgefühl, die Nahrungsweise, die Zubereitung der Speisen, das Feuer und dessen Unterhaltung, die Mahlzeiten, die Getränke, die oft heiliger Natur sind, die Anwendung von Reizmitteln (Fliegenschwamm, Betel, Haschisch, Opium etc.), die Art der Wohnungen vom Blätterschirmdach des Australiers bis zu den Bauten der Kulturvölker, die Lebensweise in geselliger und politischer Beziehung, die Organisation der Familie, der Gesellschaft und des Staats, endlich die Verhältnisse des Rechts und Eigentums sind in das Gebiet der E. einzubeziehen und dabei stets Rücksicht auf den Vergleich zu nehmen. Nach allen diesen Richtungen hin aber sind Ethnographen und Reisende thätig, um das Baumaterial für diese weitumfassende Wissenschaft herbeizutragen, Material, welches oft noch in der letzten Stunde (beim Aussterben vieler Naturvölker) erlangt wird.

Erst nach solchen langen Vorbereitungen konnte die E. unsrer Tage als Wissenschaft hervortreten; sie verlangte die Kunde des Menschen und konnte nicht mit den Menschenschemen zufrieden sein, wie sie die Gedankenmalerei der Philosophie geschaffen hatte. Indem die E., auf induktiver Grundlage vorwärts schreitend, an die Grenze der Physiologie gelangte, fand sie sich der Philosophie gegenübergestellt, mit der sie in Streit geriet. Beneke und Waitz trachteten die Psychologie als Naturwissenschaft auszubilden, sie aber und andre mußten an dem noch mangelnden Material scheitern. Bastian war es, welcher hier zeigte, daß es sich nicht mehr um den Gedanken des Einzelnen handle, sondern um den Völkergedanken, um den Gedanken der Gesellschaft, und nun strömte das Material in Hülle und Fülle herbei. "Für die E. ist der Mensch nicht mehr der individuelle anthropos, jenes zoon politikon, das den Gesellschaftszustand als notwendige Vorbedingung seiner Existenz fordert. Das Primäre also ist der Völkergedanke, innerhalb welches sich der Einzelgedanke als integrierender Teil, seinen Verhältniswerten nach, wird fixieren lassen, und im Völkergedanken reflektiert sich die ganze Welt geistiger Schöpfung, an den ethnischen Horizont projiziert." (Bastian). Und dieser Gesellschaftsgedanke wird uns die geistigen Schöpfungen, die psychischen Thaten des Menschengeistes vorführen in den religiösen Vorstellungen, in den Grundideen rechtlicher Institutionen und in allen Bedingungen des sozialen Lebens, wie es sich bald in weitgreifenden, erst angebahnten Ergebnissen fühlbar machen muß. Aufklärung für den Begriff des Gesellschaftsorganismus, wie er sich entwickelt hat, um in den Kulturvölkern seine höchsten Blüten zu treiben, haben wir aber durch ein systematisches Studium der Naturvölker zu erwarten. Sobald es uns gelungen, in den Naturvölkern den Gang der Entwickelung zu durchschauen, haben wir einen Schlüssel gewonnen, um mit seiner Hilfe auch die komplizierten Gestaltungen höherer Gebilde aufzuschließen (Bastian, Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen, 1881).

[Litteratur.] Außer den bereits angeführten Schriften erwähnen wir hier nur noch folgende, welche mit der E. im allgemeinen sich befassen: Peschel, Völkerkunde (6. Aufl. von Kirchhoff, Leipz. 1885); F. Müller, Allgemeine E. (2. Aufl., Wien 1879, mit ethnographischer Weltkarte); Ratzel, Völkerkunde (Leipz. 1885 ff., 3 Bde.); Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechts (deutsch von R. Wagner, das. 1840, 5 Bde.); Pickering, The races of man (Lond. 1851); Frankenheim, Völkerkunde (Bresl. 1852); Waitz-Gerland, Anthropologie der Naturvölker (Leipz. 1859-71, 6 Bde.); Diefenbach, Vorschule der Völkerkunde (Frankf. 1864); Wood, Natural history of man (Lond. 1868, 2 Bde.); G. Gerland, An-^[folgende Seite]