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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ethnographie

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Ethnographie (Sprache, Sitten und Gebräuche).

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I. Wollhaarige (Ulotriches);

a) Büschelhaarige (Lophocomi): Hottentoten, Papua;

b) Vlieshaarige (Eriocomi): Neger, Kaffern.

II. Schlichthaarige (Lissotriches);

a) Straffhaarige (Euthycomi): Australier, Hyperboreer, Amerikaner, Malaien, Mongolen;

b) Lockenhaarige (Eupeocami): Drawida, Nuba, Mittelländer.

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Die Merkmale, nach welchen das menschliche Geschlecht in Rassen einzuteilen ist, können unterschieden werden in anatomische, physische, physiologische und physiognomische. Hier, wo es sich um die Form des Schädels, den Gesichtswinkel, die Insertionsweise der Zähne, die Verhältnisse des Körpers, um Hautfarbe, Stellung, Form und Farbe der Augen und Haare, Bartbildung, um Blutumlauf, Atmung, Verdauung, um Gesichtsausdruck, Gesten, Mienenspiel etc. handelt, hat die Anthropologie einzutreten und der E. vorzuarbeiten. Es schließt sich hieran die Beachtung der sprachlichen Merkmale, die in der E. oft von großer Wichtigkeit bezüglich der Verwandtschaft der Völker werden können, im allgemeinen aber in unsrer Wissenschaft sekundäre Bedeutung haben. Die Sprache gehört nicht zu den natürlichen, einer Rasse, einem Volk oder Individuum inhärierenden Charakteren. Sie wird nicht ererbt, sondern erlernt, und ihr Wechsel bei ganzen Völkern wie bei Individuen ist eine bekannte Thatsache. Ähnlich verhält es sich mit der Religion, welche für die Klassifikation der Völker ohne Wert ist, so bedeutsam sie auch für die E. im allgemeinen erscheint. Von speziellem Wert für die E. ist die Beobachtung des Typus, welcher einer Bevölkerung eigen ist, wiewohl zur Würdigung dieser feinen, fast unmeßbaren Nüancen eine sehr gute Beobachtung nötig ist; neben dem Nationaltypus finden der Klassen- und Ständetypus ihre Würdigung. Auch die geistige und moralische Begabung gehören wie Fehler, Mängel und Gebrechen hierher. Dieselben sind teils allgemeiner, teils lokaler Natur, und erstere, wenn sie bei der großen Mehrheit der Bewohner eines Landes sich finden, bilden in ihrer Gesamtheit den Nationalcharakter, wie man z. B. vom Handelsgeist und dem kolonisatorischen Geschick der Engländer, vom Schachergeist der Juden redet. Die Rassen als solche sind geistig mehr oder minder begabt, und eine Abschätzung nach ihrem Wert in dieser Beziehung gehört ebensowohl in den Rahmen der E. wie die Beachtung der pathologischen Eigentümlichkeiten, die Neigung zu Mißbildungen, Affektionen und Krankheiten, die mit den klimatischen Verhältnissen oder der Rasse zusammenhängen (Kropf, Albinismus, Ophthalmie, Aussatz, Elefantiasis, Fieber, Schwindsucht).

Unter den sprachlichen Erwägungen, welche für die E. von Wert sind, haben wir zunächst die Frage nach der Verwandtschaft der Sprache zweier Völker ins Auge zu fassen, wobei eine bloße (oft zufällige) Übereinstimmung einzelner Wörter keineswegs genügend erscheint; ebensowenig kann ein Kriterium der Verwandtschaft in der Bildungsweise zweier Sprachen liegen, welche nur ein bestimmtes Entwickelungsstadium bezeichnet. Die genetische Übereinstimmung zweier Sprachen wird nur dargethan, wenn Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in ihrem grammatischen Bau und in ihren Grundbestandteilen, den Wurzeln, vorhanden sind. In das Gebiet der E. gehörten ferner die geographische Ausdehnung und Begrenzung der Sprachen (Sprachgebiete) sowie die Frage nach der Koexistenz verschiedener Sprachen, denn in Gebieten mit scharf getrennten Kasten und Klassen können auf demselben Gebiet zwei oder mehr Sprachen vorkommen: das Idiom der Eroberer und dasjenige der Besiegten, oder die Sprache der höhern Kasten und diejenigen der untern Volksklassen. So gibt es Rangsprachen in China; bei den Kariben war eine Weibersprache neben der Männersprache bekannt. Im Anschluß hieran hat die E. sich mit der Zeichen- und Gestensprache nach Art der Taubstummen, wie sie z. B. bei den amerikanischen Indianern gebraucht wird, sodann mit den Anfängen und Substituten der Schrift sowie mit dieser selbst zu befassen, und oft kann es von Wichtigkeit sein und ethnographische Aufschlüsse herbeiführen, wenn die Zahlensysteme verschiedener Völker miteinander verglichen werden. Es gibt Völker, die nur 1, 2, 3 zählen und alles darüber Befindliche mit "viel" bezeichnen, während andre nach dem Dezimal-, wieder andre nach dem Vigesimalsystem rechnen. Kerbhölzer, die Wampumgürtel der Indianer und Knotenschnüre (Quipus) der alten Peruaner sind hierher gehörige primitive Mittel, um Mitteilungen und Zählungen oder Rechnungen zu machen, wo Schrift und Ziffern fehlen.

Von der allergrößten Wichtigkeit ist das Studium der Sitten und Gebräuche eines Volkes, insofern aus denselben auf Ursprung und Vergangenheit geschlossen werden kann. Eingelebte Gebräuche bleiben lange erhalten, und alle haben oder hatten einmal, so sonderbar sie auch jetzt erscheinen mögen, Sinn und Berechtigung. Selbst nachdem der Ideenkreis, die Weltanschauung eines Volkes sich ganz geändert haben, bleiben sie. Zu unterscheiden ist zwischen natürlichen Gewohnheiten und Nachahmungen. Die erstern sind die Folgen gegebener Verhältnisse, finden sich daher bei allen Völkern auf gleicher Kulturstufe oder unter den nämlichen Lebensbedingungen. Diese Sitten haben den Wert eines deskriptiven Elements, eines charakteristischen Bestandteils der Volksbeschreibung, während den Nachahmungen bloß historische Bedeutung zukommt. Es wäre aber ein großer Fehlschluß, aus Übereinstimmung und Ähnlichkeit in den Anschauungen und Gebräuchen räumlich weit voneinander getrennter und ethnisch verschiedener Völker sofort auf Verwandtschaft derselben oder Entlehnung solcher Sitten und Vorstellungen schließen zu wollen. Je weiter und eingehender man eine solche Sitte oder Anschauung über die Erde verfolgt, desto häufiger zeigt sich das unabhängige Entstehen derselben, und wir gelangen zu dem Schluß, daß zur Erläuterung derartiger Übereinstimmungen, bei denen Entlehnung ausgeschlossen ist, auf die psychologischen Anlagen des Menschen zurückgegangen werden muß. Wie die Menschen gleich sehen, hören, schlafen, essen, so sind auch ihre geistigen Funktionen in ihren wesentlichen Zügen dieselben, allerdings nach Rasse und Lebensraum variierend. Die menschliche Natur zeigt sich überall als dieselbe, und Menschen wie Völker besitzen, wenn sie auf derselben gleichartigen Entwickelungsstufe angelangt sind, unabhängig voneinander dieselben Ideen und technischen Fertigkeiten. Überall ist der zugehauene Feuerstein die ursprüngliche Waffe oder das erste Gerät; die Anfänge der Töpferei sind überall gleich; der Tumulus hat in Europa die gleiche Form wie in Nordamerika; der Glaube an gute und böse Tage (Tagewählerei) ist über die ganze Erde verbreitet, wie die Vorstellung, daß Menschen sich zeitweilig in Tiere verwandeln können (Werwolf); überall kommt der Vampiraberglaube vor; Speiseverbote finden sich bei den meisten Völkern. In das Gebiet der E. fallen hier eine große Zahl von Einzelerscheinungen, welche an und für sich vielleicht unwesentlich er-^[folgende Seite]