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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Goethe

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Goethe (1768-71).

Auf des letztern eben damals erscheinende poetische Erzählungen war er durch Öser hingewiesen worden, dessen Zeichenunterricht und persönlicher Verkehr für G. im höchsten Maß bildend wurden. Auch die Inkognitoreise nach Dresden, die er 1767 unternahm, um die Galerie kennen zu lernen, trug zur Durchbildung seines künstlerischen Sinnes viel bei. Entscheidender noch war die Wendung, die er seinen poetischen Neigungen während der Leipziger Studienzeit, wenn schon halb unbewußt, gegeben. Indem G. das eigne Erlebnis und nur dies poetisch gestaltete, entwickelte sich jene höchste dichterische Fähigkeit, unendlich mehr zu erleben als andre, rasch in ihm. "Verlangte ich zu meinen Gedichten", heißt es in seiner Autobiographie, "eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion, so mußte ich in meinen Busen greifen; forderte ich zu poetischer Darstellung eine unmittelbare Anschauung des Gegenstandes, der Begebenheit, so durfte ich nicht aus dem Kreis heraustreten, der mich zu berühren, mir ein Interesse einzuflößen geeignet war. Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen." Begreiflicherweise schlug Goethes Vater diese Fortschritte nicht hoch genug an, um über die mangelhaften juristischen Studien und die erschütterte Gesundheit des Sohns rasch hinwegzukommen. Er drückte den Wunsch aus, daß man sich "mit der Kur expedieren möge". Gerade dies erwies sich aber als unmöglich. Während des ganzen folgenden Jahrs (1769) dauerte die Kränklichkeit Goethes fort und führte zu einer tief gehenden Verstimmung zwischen Vater und Sohn. Goethes Existenz ward nur durch den innigen Einklang, in welchem er mit Mutter und Schwester lebte, erträglich gemacht. Teils durch den Einfluß der Mutter, die sich inzwischen mit dem pietistischen, dem Herrnhutertum zuneigenden Fräulein v. Klettenberg befreundet hatte, teils durch den Verkehr mit der letztern selbst ward G. für eine kurze Zeit in eine dämmernd-fromme Richtung geführt und beschäftigte sich viel mit dem Studium mystischer und alchimistischer Schriften, dessen Nachklang erst später, namentlich in der Faustdichtung, hervortrat. Im übrigen lebte G. noch mehr in den Erinnerungen an Leipzig, korrespondierte fleißig mit dem Kreise seiner dortigen Freunde und Freundinnen und sehnte sich aus seiner Frankfurter Umgebung hinweg.

Im Frühling 1770 bezog er die Universität Straßburg, wo er nach dem Plan seines Vaters die juristischen Studien mit der Doktorpromotion abschließen sollte. Mit Behagen entdeckte er, daß hier zur Bestehung der nötigen Examina nur eine leidliche Repetition alles Erworbenen nötig sei, fand sich mit dem Nötigen rasch ab und wendete sich dafür naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien zu. Anlaß dazu gab ihm eine größtenteils aus Medizinern bestehende Tischgesellschaft, welcher auch Jung-Stilling, der merkwürdige Autodidakt und Pietist, eine Zeitlang angehörte, und in welcher der taktvolle, im ältern Wortsinn feine Aktuar des Pupillenkollegiums, Rat Salzmann, den Vorsitz führte. Die Empfehlungsbriefe an die "Stillen im Lande", welche G. von Frankfurt mitgebracht, gab er zwar ab, zog sich aber im Vollgefühl wieder erstarkter Kraft und Gesundheit und in der Erkenntnis, wie wenig sein Wesen zu den Erweckten und Erbauten passe, aus diesem Umgang bald wieder heraus. Dafür schloß er sich mit jugendlichen Genossen zusammen, unter denen neben dem tüchtigen Lerse, dem er im "Götz" später ein Denkmal setzte, sich Meyer von Lindau und Reinh. Lenz befanden. Gemeinsame Abneigung gegen französisches Wesen und französische Bildung, die ihnen in dem halb französischen Straßburg auf Schritt und Tritt begegneten, gemeinsames Gefühl von einer kraftvollen und großen Zukunft der deutschen Litteratur, vor allem gemeinsame Bewunderung führten diese Freunde, die sonst in verschiedenen Lebenskreisen sich bewegten, zusammen. Entscheidende Anregungen für ihre Auffassung der Poesie und Litteratur gab Herder, der, als Reisebegleiter des Prinzen von Holstein-Eutin nach Straßburg gekommen, sich hier einer Augenoperation wegen längere Zeit aufhielt und namentlich zu G. in ein näheres Verhältnis trat. Er erschloß ihm den Begriff der Volkspoesie, die, von den Kunstregeln unberührt, den dichterischen Grundcharakter der Zeiten und Völker erkennen läßt, öffnete ihm die Augen für die Größe Homers, machte ihn mit den eben damals von Macpherson herausgegebenen Ossianschen Liedern bekannt und lehrte den fröhlich in der Mitte der Dinge Lebenden auf Ursprung und Ausgang derselben achten. Herder fand in G. einen "guten Jungen, nur noch etwas zu leicht und spatzenhaft"; die naive Selbstgefälligkeit und fröhliche Lebenslust des Jünglings beirrten das Urteil des nur fünf Jahre ältern, aber durch schwere Lebenskämpfe und bittere Erfahrungen bereits hindurchgegangenen jungen Mannes. G. hatte schon damals eine bedeutende Entwickelungsstufe erreicht: seine Shakespeare-Studien trugen Frucht in dem Plan, den er faßte, Götz von Berlichingens Leben zu dramatisieren; er begann die ersten Keime zur großen Faustdichtung auszubilden, war von weitgehenden litterarischen Plänen erfüllt und beschäftigte sich in leidenschaftlicher Teilnahme mit deutscher Art und Kunst der Vergangenheit, wozu das Straßburger Münster und die Erinnerungen und Denkmäler des Elsaß überhaupt reichen Anlaß boten. Goethes jugendliche Lyrik aber nahm mächtigen Aufschwung durch das Haupterlebnis des Dichters während seines Straßburger Aufenthalts: die Beziehung zum Pfarrhaus von Sesenheim. Durch einen seiner Freunde in ein Pfarridyll eingeführt, in dem er Goldsmiths "Vicar of Wakefield" lebendig vor sich zu sehen glaubte, ward er alsbald viel mehr als von dem heiter-behaglichen Lebenston des Hauses von den Reizen und der Anmut der jüngern Tochter desselben, Friederike Brion (s. d.), gefesselt. Ein schwellendes, seliges Glücksgefühl, welches Goethes Lieder aus dieser Zeit durchhaucht, kam über den poetischen Jüngling; die Tage von Sesenheim, in denen er in beglückter Jugendneigung an der Seite Friederikes verweilte, wurden für G. diejenigen, die einmal und nicht wieder blühen. Der Zauber der reinsten und natürlichsten Weiblichkeit durchdrang seine Seele ganz und voll, das Vorgefühl von der Kürze und Vergänglichkeit seines Glückes trübte nur die letzten Tage desselben. Bei der Rückerinnerung an das väterliche Haus, bei Betrachtung aller Verhältnisse und der eignen Lebenspläne sah G. keine Möglichkeit, Friederike dauernd zu besitzen. Als im August 1771 der Abschluß der Studien mit einer Disputation über Thesen erreicht und die Würde eines Lizentiaten der Rechte gewonnen war, mußte sich G. unter bitterm Herzweh von der Geliebten losreißen. Er empfand die ganze Schwere und die volle Verantwortung dieser Trennung; erst acht Jahre später, als er Friederike und die Ihrigen wiedergesehen (s. unten), kam das volle Gefühl der Versöhnung mit dieser Erinnerung in seine Seele.