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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte 1843-1846).

Vertreter der Bittsteller vor seinen Schranken zu hören. Diese Energie trug gute Früchte. Gelang es den Chartisten auch noch eine Zeitlang, durch Arbeitseinstellungen und allerorten angezettelte Tumulte die Aufregung im Land zu unterhalten, so genügte doch eine ernste und strenge Anwendung der Gesetze seitens der Regierung, welcher allerdings die ausgezeichnete Ernte des Jahrs 1842 trefflich zu statten kam, um überall die Ruhe wiederherzustellen.

Unter diesen Umständen und infolge der Siege in Asien war die Situation der Regierung in den Parlamentssessionen von 1843 und 1844 eine weit günstigere. Die erstere ward vornehmlich durch Beratungen über die irische Frage ausgefüllt, da es unumgänglich nötig erschien, der von O'Connell erneuten Repealbewegung entgegenzutreten. Die Regierung hielt es vorläufig für hinreichend, durch die sogen. irische Waffenbill die Einführung von Waffen und sonstigem Kriegsbedarf nach Irland zu untersagen und das Waffentragen daselbst von einer besondern Erlaubnis abhängig zu machen. Als jedoch die Haltung der Volksversammlungen immer drohender wurde, schritt sie plötzlich mit dem Verbot einer auf 8. Okt. angesetzten Volksversammlung in der Nähe von Dublin, die von Hunderttausenden von Menschen besucht werden sollte, ein. Zur Rechtfertigung dieser Maßregel wurde kurz darauf gegen O'Connell und die andern irischen Agitatoren wegen aufwieglerischer Reden Anklage erhoben; hatte dieselbe auch keinen unmittelbaren Erfolg, da das verurteilende Erkenntnis der Geschwornen vom Oberhaus wegen eines Formfehlers kassiert wurde, so war doch hiermit die Kraft des irischen Agitators gebrochen, und die Repealbewegung verstummte allmählich gänzlich.

Noch ruhiger verlief die Session von 1844; ihr wichtigstes Ergebnis war die Umgestaltung des Bankwesens in England durch das berühmte Gesetz, welches als die Peelsche Bankakte bekannt ist (näheres über dieselbe s. Banken, S. 335). Auch die auswärtigen Beziehungen Großbritanniens, namentlich zu Frankreich, welches durch die auf den Südseeinseln gegen die britischen Interessen gesponnenen Ränke neuen Anlaß zu Argwohn gegeben hatte, gestalteten sich in diesem Jahr freundlicher; Ludwig Philipp erwiderte im Oktober einen ihm im vorigen Jahr zu Eu abgestatteten Besuch der Königin Viktoria.

Unter dem günstigen Eindruck dieser Vorgänge sowie des Aufschwunges, den Handel und Industrie genommen hatten, schickte sich Peel im J. 1845 zur Vervollständigung der vor drei Jahren begonnenen Steuer- und Zollreform an. In der Sitzung vom 14. Febr. legte er nach einer Darstellung der günstiger gewordenen Lage der Staatsfinanzen seine Absichten in dieser Beziehung dar, indem er sich abermals der Freihandelspartei näherte. Er beantragte also zunächst die Fortdauer der Einkommensteuer, mit deren Hilfe sich ungeachtet der bedeutenden Erleichterungen in den indirekten Steuern bereits ein Einnahmeüberschuß von 3½ Mill. Pfd. Sterl. ergeben hatte, dafür aber anderseits eine neue Ermäßigung der Zuckerzölle sowie die Aufhebung aller Ausfuhrzölle und einer großen Anzahl von Einfuhrzöllen auf Rohstoffe, namentlich der Eingangsgebühr auf rohe Baumwolle. Großer Beifall begrüßte diese Vorschläge schon im Parlament, ein noch lauterer aber im Land selbst, und trotz mancher Ausstellungen von seiten der Whigs wie der Tories, unter denen manche vor der Kühnheit der Peelschen Reformmaßregeln zu erschrecken begannen, erlangten alle Anträge des Ministers im Lauf der Session mit wenigen Abänderungen Gesetzeskraft. So befestigte sich Peels Stellung mehr und mehr und erhielt namentlich in den industriellen Mittelklassen eine feste Stütze, mit deren Hilfe er auch den Widerstand seines toryistischen Anhangs gegen die in demselben Jahr getroffenen Maßregeln beseitigte, durch welche er für das irische Volk eine höhere Bildung anzubahnen suchte.

Nun aber folgten im Herbst 1845 Ereignisse, welche den leitenden Minister nötigten, von der Mäßigung, mit der er bisher in der Durchführung der Tarifreform vorgegangen war, abzusehen und einen entscheidenden Schritt zu thun. Die Ernte des Jahrs war unglücklich; in Irland hatte die Kartoffelkrankheit das Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung zum großen Teil vernichtet: ein wirklicher Notstand drohte einzutreten. Der Bund gegen die Korngesetze verlangte unter diesen Umständen in täglichen, immer erregtern Volksversammlungen die Aufhebung der Getreidezölle; ihm schlossen sich die Reste der chartistischen Partei an, und auch die Führer der Whigs, Lord John Russell, Lord Morpeth, Lord Shaftesbury u. a., welche bisher einen mäßigen, aber festen Getreidezoll verteidigt hatten, erklärten sich endlich für die Forderung des Bundes. Peel erkannte, daß die Lage eine schnelle Entscheidung verlangte; auch ihm drängte sich die Überzeugung auf, daß die Kornzölle nicht länger zu halten seien; um den Whigs zuvorzukommen, beantragte er im Kabinett, die Aufhebung der Kornzölle durch das schleunigst zu berufende Parlament aussprechen zu lassen. Allein innerhalb des Ministeriums wurde dieser Vorschlag namentlich von Lord Stanley aufs heftigste bekämpft, und da Peel glaubte, unter diesen Umständen seinen Plan nicht in befriedigender Weise ausführen zu können, reichte er seine Entlassung ein (5. Dez.). Auf seinen Rat erhielt darauf Lord John Russell den Auftrag zur Bildung eines neuen Kabinetts und nahm denselben auch an, konnte aber infolge der Uneinigkeit unter den Führern der Whigs und des Mangels einer festen Majorität im Unterhaus damit nicht zustandekommen. Darauf verstanden sich auf das Ersuchen der Königin Peel und seine Kollegen, mit Ausnahme Lord Stanleys, dessen Stelle Gladstone übernahm, zur nochmaligen Übernahme des Ministeriums. Am 22. Jan. 1846 trat nun das Parlament zusammen, und schon 27. Jan. legte Peel seinen Plan vor. Danach sollten die Zölle auf verschiedene unentbehrliche Lebensmittel aufgehoben oder herabgesetzt, die Kornzölle nach Ablauf von drei Jahren beseitigt werden, mittlerweile aber alle Arten von Getreide und Mehl aus den britischen Kolonien sowie Mais und Buchweizen ohne Rücksicht auf das Erzeugungsland frei eingehen dürfen. Dafür sollte der Grundbesitz von manchen drückenden Lasten befreit werden: namentlich sollte der Staat die Kosten der Polizei auf dem flachen Land und der Grafschaftsgefängnisse sowie der Armenhäuser tragen. Die Debatten über diese Vorschläge waren im Unterhaus sehr heftig; während derselben sagte sich ein Teil der Tories, dessen Führung bald Disraeli übernahm, von Peel offen los, doch siegte der letztere schließlich mit einer Mehrheit von 98 Stimmen, und auch bei den Lords ging die Bill insbesondere durch die Bemühungen des Herzogs von Wellington durch; sie erhielt 26. Juni Gesetzeskraft. Gerade einen Tag vorher hatten die extremen Schutzzöllner die Gelegenheit benutzt, sich an Peel zu rächen. Die Regierung hatte eine Zwangsbill eingebracht, die bestimmt war, der in Irland infolge der Hungersnot eingetretenen Unsicherheit des Lebens und