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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Jesus Christus

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Jesus Christus (Geburt und öffentliches Auftreten nach den Evangelien).

tisch-ptolemäische und syrisch-seleukidische Knechtschaft gekostet, und den glorreichen Jahren der Makkabäischen Erhebung und hasmonäisch-nationalen Herrschaft war rasch das Zwangsregiment der idumäischen Herodes-Dynastie gefolgt, welche selbst wieder von der Gnade der Römer lebte. Seit dem Jahr 7 unsrer Zeitrechnung war das eigentliche Judäa sogar dem römischen Universalstaat direkt einverleibt worden, während die übrigen Teile Palästinas vorläufig noch den Söhnen Herodes' d. Gr. (s. d.) unterworfen blieben. Aber in demselben Augenblick, als die Einführung des römischen Zensus dem Volk zum erstenmal seine nunmehr unabwendbar gewordene Abhängigkeit von der erdrückenden heidnischen Weltmacht fühlbar machte, brach auch die Empörung des religiösen und nationalen Bewußtseins der Juden in lichten Flammen aus. In jene Tage des Galiläers Judas (s. d. 4) verlegt die spätere Sage der Christengemeinde die Geburt des Stifters (Luk. 2, 1 ff.), während mit ungleich mehr Wahrscheinlichkeit eine frühere Erzählung die letzten Jahre der Regierung des Herodes, etwa das J. 6 vor unsrer Zeitrechnung, dafür ansetzt (Matth. 2, 1 ff.; Luk. 1, 5). Beide Formen der Geburtsgeschichte, wie sie jetzt in den beiden ersten Kapiteln der nach Matthäus und nach Lukas genannten Evangelien vorliegen, schließen sich gegenseitig in allen Stücken aus, mit Ausnahme zweier Punkte, auf denen das dogmatische Interesse, welches beiden gemeinsam zu Grunde liegt, durchschlägt. Während nämlich Jesus aus dem galiläischen Städtchen Nazareth oder Nazara stammte (Matth 13, 54-57; 21, 11), daher er auch im Leben wie im Tod immer "Jesus von Nazareth" heißt, wie er als bloßer Einwanderer nicht hätte heißen können, mußte er wegen des Micha 5, 1 (vgl. Matth. 2, 5) angegebenen Kennzeichens der Messianität aus Bethlehem in Judäa sein. Um nun aber zu zeigen, daß er hier geboren sei, läßt die Geburtssage bei Matthäus seine Familie, die von alters her in der Davidsstadt Bethlehem wohnte, sich vor den Herodäern zuerst nach Ägypten, dann nach Galiläa flüchten, während die spätere Form bei Lukas zwar von der richtigen Voraussetzung ausgeht, die Eltern Jesu hätten in Nazareth gewohnt, dieselben aber vermöge eines äußerst künstlichen Apparats, wobei auch der oben angeführte Zensus eine Rolle spielt, vorübergehend und gerade so lange nach Bethlehem versetzt, als nötig war, um das Jesuskind dort geboren werden zu lassen. Der zweite Punkt der Übereinstimmung betrifft die sogen. vaterlose Erzeugung, die jungfräuliche Geburt Jesu. Während die beiden Geschlechtsregister (Matth. 1, 1-17; Luk. 3, 23-38) ursprünglich auf der Voraussetzung der Vaterschaft des Joseph beruhen, während Matthäus unbefangen von Jesu Vater, Mutter, Brüdern, Schwestern (12, 46; 13, 55. 56), Lukas von seinen Eltern redet (2, 27. 33. 41. 43. 48), während Markus überhaupt von einer Geburtsgeschichte schweigt, Jesu Mutter und Brüder aber als auf die besondere Rolle, die er später aufnimmt, auch nicht im geringsten vorbereitet darstellt (3, 21. 31), wird Matth. 1, 18-25 die vaterlose Erzeugung in legendarischer Form eingeführt und findet sich Luk. 1, 35 eine förmliche Theorie derselben.

Ohne Zweifel hätte der jüdische Gottesbegriff derartigen mythologisierenden Gedankengängen erfolgreichern Widerstand entgegengesetzt, wenn nicht gleichzeitig das Christentum schon in heidnischen Kreisen weitgehende Eroberungen gemacht und entsprechende Vorstellungsformen adoptiert hätte. Innerhalb des Judentums nämlich hieß zunächst Israel als auserwähltes Volk der Sohn Gottes (2. Mos. 4, 23; Jer. 31, 9). Wie nun aber der Messias persönlich dasjenige ist, was das ganze Volk sein sollte, so heißt auch er, mit Bezug auf Psalm 2, 7, "Sohn Gottes", und in diesem messianischen Sinn ist die Bezeichnung immer gefaßt, wo sie bei Matthäus und Markus Jesu dargeboten, von ihm acceptiert oder gar selbst in Gebrauch genommen wird. Die griechisch-römische Welt dagegen wußte von Gottessöhnen in handgreiflicherem Sinn; sie fand solche nicht bloß in den Heroen des Mythus, sondern sogar in geschichtlichen Persönlichkeiten, wie Pythagoras, Platon, Alexander, Augustus. Das Christentum hat solchen Vorstellungen mindestens die grobsinnlichen Elemente abgestreift, daher die Gotteskraft des Heiligen Geistes (s. d.) als Vermittelung der Zeugung aufgefaßt.

Dieselbe dogmatisch-mythische Bearbeitung und Darstellung des Lebens Jesu, welche solchergestalt in den beiden Geburtsgeschichten des Matthäus und Lukas noch mit Händen zu greifen ist, beeinflußt übrigens bis zu einem gewissen Grad auch diejenigen Teile der Lebensgeschichte Jesu, deren irdische Wirklichkeit noch durch die Hülle einer von alttestamentlichen Erinnerungen und messianischer Dogmatik bedingten, halb poetischen Darstellungsform deutlichst zu erkennen ist. Zugestandenermaßen stehen der geschichtlichen Wirklichkeit am nächsten die Evangelien des Markus und des Matthäus, namentlich in allen denjenigen Berichten, bezüglich welcher Übereinstimmung unter ihnen herrscht, so daß sich die neuern kritischen Darstellungen des Lebens Jesu in der Regel nur durch ein Übergewicht der Bevorzugung, die dem einen oder dem andern der beiden genannten Evangelisten zu teil wird, zu unterscheiden pflegen. Noch größere Übereinstimmung herrscht in einer von theologischem Vorurteil und dogmatisch-apologetischer Tendenz emanzipierten Wissenschaft hinsichtlich des dritten und des vierten, d. h. der spätern Evangelien. Dasjenige des Lukas hält sich zwar noch im allgemeinen an den synoptischen Stoff, behandelt ihn aber im einzelnen schon vom Standpunkt einer höhern, insonderheit der Paulinischen, Christuslehre, während das vierte, nach Johannes genannte Werk gleich mit der Spekulation über das übersinnliche, göttliche Wesen Jesu beginnt, von vornherein weniger Geschichte als Theologie in Aussicht stellt und den ganzen Rahmen der ältern Form der Berichterstattung auf allen Punkten durchbricht (s. Evangelium). So ist es z. B. erst Folge dieser Johanneischen Umgestaltung und Erneuerung, welche die ältern Elemente der Sage erlitten haben, wenn die Zeitdauer der öffentlichen Wirksamkeit Jesu auf etwas mehr oder weniger als drei Jahre geschätzt wird. So lange hätte er sich, zumal als erklärter Messias, der Hochflut der hierarchisch-pharisäischen Opposition und der rücksichtslosen Praxis der römischen Polizei gegenüber schwerlich halten können. Dem ältern synoptischen Bericht zufolge hat Jesus die messianische Fahne erst am Tag seines Einzugs in Jerusalem offen und vor allem Volk entfaltet, um sie etwa eine Woche über aufrecht zu halten, während seine öffentliche Wirksamkeit denselben Quellen zufolge etwa von einer Osterzeit zur andern reichte; sein erstes Auftreten fällt wahrscheinlich in den Anfang des Jahrs 34 unsrer Zeitrechnung, sein Tod in den April 35; die neuern Forschungen weisen allerdings ein Schwanken innerhalb des Zeitraums von 34-36 auf. Maßgebend bleibt die schon in der Mitte des 2. Jahrh. nachweisbare und dann hartnäckig, trotz der glänzenden Autorität des vierten Evangeliums, Jahrhunderte hin-^[folgende Seite]