Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Keilschrift

660

Keilschrift (Ergebnisse der Keilschriftforschung).

in der ersten Zeile erscheint, während die zweite im gewöhnlichen Assyrisch abgefaßt ist. Mit Hilfe des Assyrischen ist es gelungen, auch diese Sprache zu enträtseln, obschon sie mit keiner bekannten Sprache näher zusammenhängt und nur mit dem Türkischen und andern agglutinierenden Sprachen eine entfernte Ähnlichkeit verrät. Nach den in den Inschriften selbst vorkommenden Bezeichnungen wird diese Sprache gewöhnlich die akkadische, von Oppert, Delitzsch u. a. die sumerische, von einigen die protochaldäische, d. h. die Ursprache von Chaldäa, genannt. Die von ihr erhaltenen Überreste werfen ein helles Licht auf die höchst bedeutende Kultur der Urbevölkerung von Chaldäa, welche die beiden Reiche Akkad und Sumer, d. h. Südost- und Nordwestbabylonien, begründete. Ihre ältesten Herrscher, von denen uns die Inschriften melden, gehören wahrscheinlich der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. an; jedenfalls hörte ihre Sprache schon um 1700 v. Chr. auf, eine lebende zu sein, erhielt sich aber in Gebeten und wurde in den babylonischen, später in den assyrischen Priesterschulen fortdauernd gepflegt bis ins 6. Jahrh. v. Chr. Diese uralte Kulturnation hat in ganz Vorderasien einen weitreichenden Einfluß geübt, entweder direkt oder wahrscheinlicher indirekt durch die semitischen Babylonier und Assyrier, welche sich ihres Landes bemächtigten, aber zugleich ihre höhere Zivilisation annahmen und sie den stammverwandten Phönikern und Hebräern mitteilten, worauf erstere sie wieder zu andern Völkern, namentlich nach Griechenland, verpflanzten. Herakles ist der Melkart, der Sonnengott von Tyros; letzterer ist aber nur eine Wiederholung des akkadisch-babylonischen Gisdhubar, in dessen Geschichte sich die Heldenthaten des Herakles wiederfinden. Aphrodite ist die phönikische Astarte, diese aber die akkadische Mondgöttin Istar, die in die Unterwelt hinabsteigt, um ihren Geliebten, den Sonnengott Tammuz, zu suchen, der wie der griechische Adonis erschlagen worden ist. Noch genauer sind die Übereinstimmungen zwischen den Erzählungen der Genesis und der akkadisch-babylonischen Mythologie; so finden sich der mosaische Schöpfungsbericht, die beiden Cherubim des Paradieses, die Figur des Nimrod, der Turmbau zu Babel und namentlich die ganze Flutsage in den Keilinschriften in älterer Fassung vor. Auch in Kunst und Wissenschaft sind die Akkadier oder Sumerier die Lehrmeister späterer Kulturvölker gewesen. Die assyrische Kunst, welche die griechische so stark beeinflußt hat, ist akkadischen Ursprungs, ebenso wie Maß und Gewicht der Griechen und andrer alter Völker, und wenn im Altertum Babylonien als die Heimat der Astronomie angesehen wurde, so findet diese Anschauung in der akkadisch-babylonischen Litteratur ihre volle Bestätigung. Von den Akkadiern rühren die zwölf Zeichen des griechischen Tierkreises und die sieben Wochentage, wahrscheinlich überhaupt der ganze griechisch-römische Kalender her; selbst Mondfinsternisse vermochten sie schon ganz richtig zu berechnen. Ihnen ist auch ohne Zweifel die Erfindung der K. zuzuschreiben, welche ursprünglich eine reine Bilderschrift war und, wie die ägyptische und chinesische Schrift, erst allmählich zur Silben-, bei den Persern schließlich zur Lautschrift wurde; selbst in den assyrischen Zeichen ist der bildliche Charakter teilweise noch deutlich sichtbar, z. B. bei dem Zeichen ^[img] ("Zunge einer Wage"). Darauf, daß die K. für eine ganz andre Sprache erfunden war, beruhen die meisten der eigentümlichen Schwierigkeiten, welche die assyrisch-babylonische K. der Entzifferung noch immer bietet, die aber durch die fortdauernden neuen Funde stets verringert werden.

Die akkadische Litteratur ist uns zum Teil nur in assyrischen Übersetzungen erhalten, und solche Übersetzungen scheinen den Hauptteil der assyrischen Litteratur gebildet zu haben; doch haben die assyrischen Chroniken und Kalender auch höchst wichtige historische und chronologische Resultate geliefert und andre Inschriften uns über die aus einem Gemisch akkadischer und semitischer Vorstellungen bestehende babylonische Religion, über das große babylonische Nationalepos und über die Sitten und Einrichtungen der Babylonier und Assyrer die interessantesten Aufschlüsse gebracht. Nicht minder bedeutsam sind die semitischen Schwesterdialekte von Babylon und Assyrien für die Sprachforschung, da sie alle andern semitischen Sprachen, selbst Hebräisch und Arabisch, an Altertümlichkeit weit übertreffen. Im 8. und 7. Jahrh. v. Chr. finden sich auf den assyrischen Thontäfelchen, namentlich in Kauf- und Schuldverträgen, neben der K. häufig zugleich Übersetzungen in aramäischer Schrift und Sprache, und nach der Zerstörung von Ninive (606) und Babylon (536) verschwand die K. für immer aus diesen Gegenden, erhielt sich aber bei den Persern, wie die anfangs erwähnten Inschriften ihrer Könige zeigen, bis ins 4. Jahrh. v. Chr. im Gebrauch. Auch von der akkadischen Sprache haben sich wenigstens Verwandte ebenso lange erhalten in den Inschriften von Susiana und in der Sprache der sogen. K. zweiter Gattung, die auf den persischen Inschriften vorliegt und nach Oppert die Sprache der alten Meder ist. Letztere Annahme ist allerdings auf Widerspruch gestoßen, wie überhaupt manche neuere Ergebnisse der Keilschriftforschung lebhaft bestritten worden sind und z. B. von Halévy die Behauptung verfochten wurde, daß das Akkadische gar keine Sprache, sondern nur eine besondere Schreibweise des Assyrischen sei; doch sind durch diese Kontroversen immer nur einzelne Außenposten der Keilschriftenforschung gefallen, während das System und die Hauptergebnisse unerschüttert blieben. Nur die in Armenien gefundenen Keilinschriften sind bis in die neueste Zeit ein Rätsel geblieben. Mordtmanns Versuch, sie aus dem Neuarmenischen zu erklären, ist gescheitert; wahrscheinlicher ist die Ansicht von Lenormant und Sayce, daß sie mit dem Georgischen zusammenhängen. Wie weit die K. einst verbreitet gewesen sein muß, beweist der Umstand, daß sich selbst auf der Insel Cypern in alten Denkmälern eine Abart derselben gefunden hat; dagegen hat der Versuch, die phönikische Schrift, die Mutter der meisten neuern Alphabete, aus der K. abzuleiten, unter den Kennern wenig Beifall gefunden. Vgl. Layard, Ninive und seine Überreste (deutsch von Meißner, Leipz. 1850, 2 Bde.); Oppert, Expédition en Mésopotamie (Par. 1857-64, 2 Bde.); Derselbe, Histoire des empires de Chaldée et d'Assyrie (das. 1866); Derselbe, La langue et la peuple des Mèdes (das. 1879); Lenormant, Manuel d'histoire ancienne de l'Orient (9. Aufl., das. 1883 bis 1885, 4 Bde.; deutsch von Busch, 2. Aufl., Leipz. 1873, 3 Bde.); Derselbe, Études accadiennes (Par. 1872-80); Schrader, Die Höllenfahrt der Istar (Gießen 1874); G. Smith, The Chaldean account of Genesis (Lond. 1875; deutsch von Delitzsch, Leipz. 1876); Sayce, Babylonian literature (Lond. 1877; deutsch, Leipz. 1878); v. Gutschmid, Die Assyriologie in Deutschland (das. 1876); Schrader, Keilinschriften und Geschichtsforschung (Gießen 1878);