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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Medizin

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Medizin (im 19. Jahrhundert).

ger der Naturphilosophie zu schulden kommen ließen, hat der Geist derselben höchst wohlthätig und belebend auf die Heilkunde, namentlich auf die Physiologie, eingewirkt, welch letztere jetzt von Troxler, J. J. ^[Johann Joseph] Dömling, Ph. F. v. Walther, J. B. ^[Johann Bernhard] Wilbrand, Ign. Döllinger u. a., auf Schellingsche Prinzipien basiert, mit Erfolg bearbeitet ward. Die Theorien der Heilkunde, welche auf die Naturphilosophie folgten, sind meist nichts als Ausgeburten der Lehre Browns und der Erregungstheorie und deshalb von geringer historischer Bedeutung. Hervorzuheben ist nur die Homöopathie (s. d.), deren Begründer Samuel Hahnemann (1755-1843) den Dynamismus auf die Spitze trieb durch die Annahme, daß jede Krankheit nicht ein organischer Entwickelungsprozeß, sondern nur eine dynamische Verstimmung des Körpers, jede Ursache der Krankheit nur dynamisch aufzufassen, die Naturheilung deshalb unstatthaft und Krankheit nur durch Krankheit zu vertreiben sei. Als eine Modifikation dieser Homöopathie ist auch eine Isopathie aufgekommen, welche, das Prinzip der Schule in aequalia aequalibus curantur umwandelnd, nicht durch das Ähnliche, sondern durch das Gleiche, die Krankheit also durch ihre eignen Ursachen heilen will.

In den ersten drei Dezennien unsers Jahrhunderts hat sich die Heilkunde unverkennbar in ein harmonischeres Verhältnis zu den Naturwissenschaften gesetzt, aber in kaum geringerm Grad machte sich die Einwirkung philosophischer Anschauungen und Systeme noch auf die M. geltend. Ganz besonders wurden eigentlich erst jetzt die Anatomie und Physiologie der M. dienstbar gemacht. Das ungeheure Feld der Anatomie wurde nach allen Richtungen hin mit unglaublichem Eifer angebaut. Die allgemeine Anatomie, begründet von Bichat (1801), trat sofort wirksam in das Leben ein; die vergleichende Anatomie wurde bei der geistreichen Bearbeitung, welche sie in allen gebildeten Ländern Europas fand, eine der einflußreichsten und bedeutungsvollsten Wissenschaften, und die pathologische Anatomie ist eine reiche Fundgrube geworden, aus welcher die praktische M. wie die Physiologie den größten Gewinn ziehen. Die Physiologie, im engen Anschluß an ihre Schwesterwissenschaft, die Anatomie, gelangte mit Hilfe des Mikroskops, der chemischen Analyse und des Experiments zu wichtigen Entdeckungen. Wenn die Philosophen unter den damaligen Ärzten diese Physiologie beschuldigten, zum Teil allzu materiell geworden zu sein, so fehlte es auf der andern Seite nicht an Bemühungen, z. B. von seiten Burdachs, diese Doktrin wieder auf den Standpunkt zu versetzen, wo sich Körper- und Seelenleben an Einem Gedanken aufbauen, und wo der Körper als das Resultat der in ihm wohnenden Seele erscheint. Eine neue Richtung entwickelte sich in der Pathologie durch die naturhistorische Schule, an deren Spitze Schönlein (gest. 1864) stand. Auf die schon von Platon und Paracelsus mehr oder weniger deutlich ausgesprochene und in den Schulen der Naturphilosophie wiederholte Ansicht, daß die Krankheit nicht bloß ein Mangel der Gesundheit, sondern eine eigentümliche, aber niedere Lebensform, ein im Organismus parasitisch wurzelnder Lebensprozeß sei, gründete Schönlein ein nosologisches System, welches, analog dem Linnéschen Pflanzensystem, die Krankheiten gruppierte, ihre anatomischen und physiologischen Charaktere in möglichster Vollständigkeit berücksichtigte und ihre geographische Verbreitung etc. ins Auge faßte. Durch die experimentellen Arbeiten eines Orfila, Magendie u. a. erhielt auch die Toxikologie eine neue Bedeutung, während Diätetik und Hygieine nur spärlich angebaut wurden. Was die Therapie betrifft, so hat sich diese in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts nur selten in einer Achtung und Vertrauen einflößenden wissenschaftlichen Richtung gezeigt, obschon es nicht an Gelegenheit zur Vervollkommnung fehlte, da die Zahl alter und neuer Krankheiten, besonders epidemischer, vorzugsweise groß gewesen ist. In jener Periode trat auch eine neue medizinische Doktrin, nämlich die Seelenheilkunde, in die Geschichte ein. Sie gelangte bald zu einer imponierenden Selbständigkeit, ihre Theorie aber nahm eine zweifache Richtung an. Die eine, jetzt allgemein als allein richtig anerkannte Richtung hält die Seelenkrankheiten für körperlichen Ursprungs, für eine materiell begründete Krankheit des Leibes; die andre findet deren Ursache lediglich in dem psychischen Prinzip, in moralischer Gesunkenheit, und stellt sie fast dem Verbrechen gleich; eine dritte Richtung neigt sich vermittelnd bald auf die eine, bald auf die andre Seite, ohne immer die rechte Mitte festzuhalten und in richtiger Erfassung des Wechselverhältnisses somatischer und psychischer Ursachen die Totalität der menschlichen Natur in Erwägung zu ziehen. Die beiden Extreme der Theorie sind durch Nasse und Heinroth bezeichnet, ohne in der Praxis wesentlich verschieden zu sein.

Werfen wir zuletzt einen Blick auf die letzten 30 Jahre, so muß man gestehen, daß die Leistungen, welche die Jünger der M. in den verschiedenen Doktrinen derselben während dieser Zeit zustande gebracht haben, von größerm Umfang und größerer Tragweite sind als alles, was die beiden vorhergehenden Jahrtausende ans Licht befördert haben. Die M. unsrer Tage unterscheidet sich von der aller vergangenen Zeiten vornehmlich dadurch, daß die aprioristische philosophische Spekulation gänzlich aus derselben verbannt ist, und daß man sich nur noch an dasjenige hält, was die gesunden fünf Sinne und eine nüchterne Reflexion an die Hand geben, und es ist zweifellos, daß sämtliche philosophische Richtungen, welche sich der M. jemals bemächtigt haben, zusammengenommen noch lange nicht so viel geleistet haben wie die wenigen großen und klaren Geister, welche sich allein auf die unbefangene und vorurteilsfreie Beobachtung der Natur gestützt haben. Den Vorwurf der Philosophiescheu, der Nüchternheit, des Materialismus mag die neuere M. gern hinnehmen, denn der sichere Grund der positiven Thatsachen gewährt für weitere Fortschritte noch mehr Reiz, als spekulative Urgebilde jemals gewähren können. Die innige Verbindung, welche die Naturwissenschaften mit der M. eingegangen sind, hat reiche Früchte für die letztere getragen, und ihr Einfluß war stark genug, um der M. selbst zu einer exaktern, naturwissenschaftlichen Richtung zu verhelfen. Die Anatomie hat mit Hilfe vervollkommter Mikroskope die Struktur der feinsten Körperteilchen in das rechte Licht gesetzt; die Physiologie hat sich dieser Forschungen bemächtigt, und in Verbindung mit der allerdings noch sehr wenig entwickelten Anthropochemie sowie mit Hilfe der physikalischen Wissenschaften ist sie dahin gelangt, alle Lebensvorgänge auf chemische und physikalische Gesetze zurückzuführen, und das geheimnisvolle Agens, was man früher Lebenskraft nannte, ist ganz aus der Wissenschaft verschwunden. Die Pathologie ist seit allgemeiner Einführung der Perkussions- und Auskultationskunst um ein höchst wertvolles Untersuchungsmittel bereichert worden, so daß man sagen kann, es sei dadurch eine wesentliche Erweiterung unsers Gesichtskreises eingetreten. Die pathologische