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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Napoleon

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Napoleon (N. I.: Ende).

der Dauphiné, wo ihn das Volk nicht unfreundlich, aber gleichgültig empfing; erst vor Grenoble gelang es ihm, ein Bataillon der königlichen Armee auf seine Seite zu bringen, worauf er 7. März in diese Festung einzog. Von Lyon aus, das er 10. März erreichte, ergriff er von Frankreich Besitz. Doch entschied erst der Abfall Neys (14. März) seinen Sieg. Um den Bourbonen Zeit zur Flucht zu lassen, verzögerte er seine Ankunft in Paris, die erst 20. März erfolgte.

Durch Verleihung einer freien Verfassung und durch Berufung liberaler Männer, wie Carnot, suchte er die konstitutionelle und die republikanische Partei zu gewinnen und versicherte den auswärtigen Mächten in feierlichen Erklärungen seine Friedensliebe. Doch hatten diese schon 13. März eine förmliche Achtserklärung gegen ihn erlassen und am 25. ihr Bündnis gegen ihn erneuert und die Zusammenziehung ihrer Heere beschlossen. N. mußte daher seinen Thron von neuem verteidigen. Nachdem er 1. Juni auf dem Marsfeld die freisinnige Zusatzakte vom 22. April beschworen, rückte er in Belgien ein, schlug 16. Juni die Preußen bei Ligny und griff 18. Juni bei Waterloo die Verbündeten unter Wellington an, ward aber, ehe er diesen überwältigen konnte, von Blücher in der rechten Flanke angegriffen und völlig geschlagen; auf der Flucht mußte er in Jemappes seinen Wagen mit Hut, Degen u. a. in den Händen der Verfolger zurücklassen. Als er 20. Juni wieder in Paris eintraf, fand er bei den Kammern nicht nur keine Unterstützung für seinen Plan, den Kampf fortzusetzen, sondern dieselben drohten ihm sogar mit Absetzung, ja Verhaftung, wenn er nicht sofort abdanke, und drückten ihm, als er 22. Juni dem Thron zu gunsten seines Sohns Napoleon II. entsagt hatte, dafür den Dank der Nation aus. Tief gekränkt verließ er, nachdem das zweite Kaiserreich 100 Tage (Cent jours) gedauert hatte, Paris und begab sich, unschlüssig über das, was er thun sollte, nach mehrtägigem nutzlosen Aufenthalt in Malmaison nach Rochefort, wo er den Hafen von englischen Schiffen blockiert fand und sich 15. Juli an Bord des englischen Linienschiffs Bellerophon begab, das mit ihm nach der Reede von Plymouth segelte. Auf Befehl der verbündeten Monarchen, die ihn als ihren Gefangenen betrachteten, wurde er nach St. Helena gebracht, wo er 16. Okt. anlangte.

Im Dezember 1815 wurde ihm Longwood, eine Meierei auf der Hochebene der Insel, als Wohnung angewiesen. Nachdem er die Erschöpfung der letzten Monate überwunden, wurde ihm sein Aufenthalt bald unerträglich. Seine Ungeduld und Reizbarkeit ließ er an dem Gouverneur Sir Hudson Lowe aus, der durch die Befehle der Großmächte zu strenger Bewachung gezwungen war. Seine Umgebung schmiedete fortwährend Fluchtpläne und forderte durch Versuche, mit Europa geheime Verbindungen anzuknüpfen, und durch maßlose Ansprüche scharfe Gegenmaßregeln Lowes heraus, über die man sich dann mit lauten Klagen beschwerte, bis Lowe alle Gefährten Napoleons, außer Bertrand und Montholon, von St. Helena entfernte. Als man N. nicht mehr erlauben wollte, ohne militärische Aufsicht ins Freie zu gehen, verließ er seine Wohnung nicht mehr. Meist beschäftigte er sich mit dem Diktieren der "Mémoires de Ste-Hélène", in denen er sein Leben, seine Absichten und Thaten so darstellte, wie er sie von der Nachwelt aufgefaßt wissen wollte, und sich mit dem erlogenen Schein der Vaterlands- und Freiheitsliebe und des Strebens nach der höhern Zivilisation der Menschheit umhüllte. Infolge des ungewohnten Mangels an Bewegung und des feuchten Klimas entwickelte sich bei ihm der Magenkrebs, an dem er 5. Mai 1821 starb. Sein Leichnam ward an der von N. selbst gewählten Stelle im Thal Stane feierlich beigesetzt, 1840 aber auf der Fregatte La belle Poule durch den Prinzen von Joinville nach Paris gebracht, wo er im Dom der Invaliden ein prächtiges Grabmal erhielt.

Napoleons durch unzählige Bildnisse bekannte Gestalt war klein (er maß nur etwa 1,63 m), sein Kopf im Verhältnis zum Körper stark und mit kastanienbraunem Haar bedeckt, seine Stirn hoch und breit; die Augen, deren Blick in früherer Zeit ein düsteres Feuer, später einen kalten Ausdruck hatte, waren hellblau, die Nase fein geformt, der Mund anmutig und von ungemeiner Beweglichkeit, das Kinn hervorstehend. Das Gesicht hatte einen durchaus italienischen, an klassische Formen erinnernden Charakter. In frühern Jahren blaß und mager, ward N. später voll und stark. Mäßigkeit war ihm Bedürfnis: Hunger, Durst und andre Strapazen ertrug er mit Gleichmut. Sein Feldherrngenie ist unbestritten eins der bedeutendsten der Geschichte. N. war ein unübertroffener Meister in der Kriegskunst, in der Praxis sowohl als in der Theorie. Das geographische Bild eines Landes, Aufstellung und Bewegungen der Truppen hatte er plastisch vor Augen; er war ebenso unerschöpflich in Hilfsmitteln wie kühn und energisch in der Durchführung. Weniger hervorragend war seine staatsmännische Begabung. Er behandelte die Politik wie den Krieg und ging rücksichtslos auf sein Ziel los; kein Mittel schien ihm unwürdig, wenn es ihm nur diente. Die Rechte andrer beachtete er nicht und bemühte sich nie, die Interessen und Anschauungen der von ihm Beherrschten zu begreifen oder gar auf sie einzugehen. Nur sein eigner Wille sollte gelten, und deshalb verlor er durch seine Erfolge jedes Maß der Dinge. Der Staat sollte wie eine Maschine konstruiert sein, welche sich durch einen Druck der Hand in Bewegung setzen läßt und unter der Leitung des intellektuellen Urhebers sicher und geräuschlos fortarbeitet. Am geringsten ist Napoleons sittlicher Wert anzuschlagen. Er war von 1793 an nur berechnender Egoist von maßlosem Ehrgeiz, der aber mit meisterhaftem Geschick zu heucheln verstand und wirklich Mit- und Nachwelt über sich selbst völlig getäuscht hat. Bis zu seinem Tod hat er die Maske des Helden beibehalten, der für den Ruhm und die Größe des geliebten Frankreich, für die Gleichheit, Freiheit und Bildung kämpft. Ohne Begeisterung für ihre Wahrheit, aber mit kluger Berechnung ihrer Wirksamkeit bemächtigte er sich einiger Ideen der französischen Revolution, um sich durch ihre Verwirklichung für den Vollender dieser großen Bewegung auszugeben, und wenigstens das Ausland hat ihm zu danken, daß er mit scharfem Besen eine Menge Schutt weggeräumt hat. In Frankreich hat er aber die große Reform vergiftet und das Volk um ihren Segen betrogen. N. besaß keine echte Geistesbildung: "Quel dommage" sagte Talleyrand, "qu'un si grand homme ait été si mal élevé!" In der ersten Zeit wußte er sich zu beherrschen; aber als er im Besitz der Macht war, legte er sich keinen Zwang mehr auf und ließ die Schwächen seines Charakters in ihrer ganzen Nacktheit hervortreten: seinen kleinlichen Neid, seine echt corsische Rachsucht, seine brutale Roheit, von der namentlich seine Vertrauten empfindlich zu leiden hatten. Aber er verstand die Menschen zu blenden. Nicht nur in seiner Glanzzeit, noch mehr nach seinem