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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Nervensystem

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Nervenschwäche - Nervensystem.

welche zur schnellen Entfettung eingeschlagen werden, jenen Schwächezustand herbei, zuweilen forcierte Schwitz-, Trink-, Hunger- oder Kaltwasserkuren, welche zu den modernen "Heilmitteln" gehören und welche sehr zum Schaden der Patienten oft ohne ärztliche Vorschrift und Überwachung auf eigne Hand unternommen und durchgeführt werden. Vorzugsweise betroffen werden die geistig arbeitenden Klassen und naturgemäß in höherm Maß in dem lebhaften Treiben der großen Städte als auf dem Land; Beamte, Offiziere, Ärzte, Gelehrte und Künstler stellen das größte Kontingent. Bei der verwirrenden Mannigfaltigkeit der Symptome sei hier an einem Beispiel dargethan, wie bei einem ehrgeizigen Mann die N. aus Überanstrengung sich zu entwickeln pflegt: Im besten Mannesalter stehend, bisher gesund und kräftig, hat er zehn Stunden und darüber angestrengt arbeiten können, ohne an Frische dabei einzubüßen. Unter dem Einfluß einer Gemütsaufregung fühlt er sich plötzlich bei der Arbeit unruhig und zerstreut, zeitweise schwinden die Gedanken, indessen rafft er sie zusammen und arbeitet weiter, bis er wiederum von Aufregung und Angstgefühl befallen wird. Anfangs wird der Schwächezustand gewaltsam überwunden, allmählich versagen die Kräfte, es tritt Unfähigkeit zur Arbeit ein, die Zeit wird mit Grübeln über den krankhaften Zustand ausgefüllt, es stellt sich ein Gefühl von Druck im Kopf ein, welches den Kränkelnden zwingt, sich in den stillsten Winkel seiner Wohnung zurückzugehen. Dabei wird er leicht erregbar, schreckhaft über jedes Geräusch (nervöse Hyperakusie), der Schlaf ist unruhig, gleicht mehr einem unerquicklichen Halbschlummer. Am Morgen erwacht er wieder, es gelingt ihm nicht, Zeitung oder Bücher zu lesen (nervöse Asthenopie), er leidet an nervösem Herzklopfen, fühlt sich beängstigt, die Brust zusammengeschnürt. Der Appetit fehlt, die Zunge wird belegt, gegen Speisen stellt sich Abscheu ein, nach dem Essen folgt Übelkeit und Aufstoßen, Magenschmerzen (nervöse Kardialgie) und Stuhlverstopfung (spastische Obstipation). Die Gemütsverstimmung kann sich zur Hypochondrie und zu voller Schwermut steigern. Alle diese Symptome hängen vom Gehirn ab (cerebrale Neurasthenie). Das Herzklopfen, Blutwallungen und rasch folgende Blässe, übertriebene oder fehlende Schweiß- und Speichelsekretion deuten auf Störungen im sympathischen Nervengeflecht hin. Daran schließt sich zuweilen als drittes Glied eine Reihe von krankhaften Störungen des Rückenmarks (spinale Neurasthenie), schnelles Ermüden von Arm und Beinen, Zittern der Hände beim Ausstrecken mit gespreizten Fingern (Tremor), krampfartige Muskelzuckungen und ein Gefühl von unaufhörlichen oder zeitweise aussetzenden flatternden Bewegungen. Störungen der Empfindung äußern sich in Taubsein, Eingeschlafensein oder Ameisenlaufen, besonders in den Füßen, Schmerzen in der Wirbelsäule, welche im Verlauf der Nerven auf die Extremitäten ausstrahlen. Zuweilen ist die sexuelle Erregbarkeit gesteigert (Satyriasis), zuweilen erloschen (Azoospermie), namentlich bei bestehenden chronischen Krankheiten dieser Sphäre.

Die Behandlung erfordert die größte Umsicht eines Nervenarztes, welche sich in jedem Fall zunächst auf die Beseitigung etwa vorhandener Organleiden, alsdann aber auf die N. als solche richten muß. Vor allem bedarf es eines tröstenden, den Kranken ermutigenden Zuspruchs. Es muß für einen geeigneten Aufenthalt in reiner Wald-, Gebirgs- oder Seeluft gesorgt werden; unter Umständen sind Bäder, Kaltwasserkuren, Massage mit elektrischer Reizung der Nerven, nervenstärkende Mittel, Bromkali, Chinin, Eisen am Platz. Die Ernährung muß geregelt werden, und unter allen Umständen muß für die Zukunft den Schädlichkeiten, welche die N. hervorgebracht haben, vorgebeugt werden. Die Heilung ist gewöhnlich langsam, aber bei rationeller Behandlung und gutem Willen des Kranken oft von vollkommenem Erfolg. Vgl. Beard, Die N., Neurasthenie (deutsch, 2. Aufl., Leipz. 1884); Derselbe, Die sexuelle Neurasthenie (mit Rockwell; deutsch, Wien 1885); Arndt, Die Neurasthenie (das. 1885); Möbius, Die Nervosität (2. Aufl., Leipz. 1885); v. Krafft-Ebing, Über gesunde und kranke Nerven (3. Aufl., Tübing. 1886); Löwenfeld, Die moderne Behandlung der N. (Wiesb. 1887); v. Ziemssen, Die Neurasthenia (Leipz. 1887); Ultzmann in der "Wiener Klinik" 1879; Curschmann in v. Ziemssens "Handbuch der Pathologie und Therapie", Bd. 9. Vgl. Nervenkrankheiten.

Nervensystem, die Gesamtheit aller Organe der Empfindung im tierischen Körper. Ursprünglich wohnt einer jeden Zelle die Fähigkeit, die äußern Reize zu empfinden und sich demgemäß zu bewegen, also zusammenzuziehen, auszudehnen etc., inne; daher ist auch bei den niedersten Tieren ein gesondertes N. noch nicht vorhanden. Bei Zusammensetzung des Körpers jedoch aus mehreren Schichten, wie sie bei weitaus den meisten Tieren stattfindet, beschränkt sich die Empfindlichkeit mehr und mehr auf die äußerste Schicht, die Haut, welcher daher auch das N. angehört. In der einfachsten Form, welche das N. einnimmt (vgl. Haut), besteht es aus Hautzellen, welche entweder einzeln oder zu Gruppen angeordnet sich vor den übrigen Hautzellen durch größere Reizbarkeit auszeichnen und unter sich mittels seiner Ausläufer in Verbindung stehen. So noch bei Quallen und Seerosen. Bei den übrigen Tieren jedoch hat sich das N. mehr oder weniger von der Haut in das schützende Innere des Körpers zurückgezogen und steht mit der Oberfläche meist nur noch an einigen Stellen (Sinnesorgane, s. d.) in Verbindung.

Doch zeigt sich während der Entwickelung jedes höhern Tiers aus dem Ei, wie das gesamte N. auch hier aus einem Teil der Haut hervorgeht und sich erst später in die Tiefe des Körpers versenkt. Man unterscheidet übrigens am N. in seiner vollkommenen Ausbildung zwei Teile: den zentralen und den peripherischen. Ersterer ist vorzugsweise aus Ganglienzellen (s. unten) zusammengesetzt, letzterer besteht meist aus Nervenfasern (s. unten) und verbindet die Zentralorgane mit den in der Haut gelegenen Endapparaten, den Sinnesorganen, oder mit den Muskeln etc. Bei den höhern Tieren lassen sich ferner nach einer andern Richtung hin zweierlei Arten von Nervensystemen unterscheiden: das animale zur Besorgung der bewußten Empfindungen und willkürlichen Bewegungen, das vegetative für die Vorgänge der Ernährung, Absonderung etc. sowie für die damit verbundenen unwillkürlichen Bewegungen. Im Zentralteil des animalen Systems treten bei den meisten Tieren die Ganglienzellen zu Gruppen, den sogen. Ganglien (Nervenknoten), zusammen, die unter sich durch Bündel von Nervenfasern (Kommissuren) verbunden sind und die peripherischen Nerven von sich ausstrahlen lassen. Bei den gegliederten Tieren sind dann gewöhnlich für jeden Abschnitt des Körpers zwei nebeneinander liegende Ganglien vorhanden, so daß mittels der