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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Rückenmarkserschütterung; Rückenmarkshautentzündung; Rückenmarkskrankheiten

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Rückenmarkserschütterung - Rückenmarkskrankheiten.

Vorhandensein einer Seele zu schließen berechtigt sind, durchaus nicht wahrgenommen werden, und daß nicht die geringste Erscheinung für ein im R. wirkendes Bewußtsein spricht. Geregelte Bewegungen der beschriebenen Art, welche ohne Vermittelung des Bewußtseins zu stande kommen, bezeichnet man als geordnete Reflexe. Entfernt man nicht allein das Gehirn, sondern zerstört man auch das R., so werden keine Reflexbewegungen mehr beobachtet. In genau derselben Weise ist auch bei den Säugetieren das R. selbständig thätig. Neben zahlreichen andern Bewegungserscheinungen wurden nämlich am abgetrennten Lendenmark noch zahlreiche Reflexakte, welche zum Begattungsakt (Erektion und Ejakulation), zur Geburt (Wehen) und zur Entfernung der Exkremente dienen, wahrgenommen. Im R. konnten außerdem vasomotorische Zentren, welche die Wandungen der Blutgefäße dauernd in einem mäßigen Kontraktionszustand (Gefäßtonus) halten, nachgewiesen werden, ferner Schweißzentren und automatische Apparate. Was die Leitungsbahnen des Rückenmarks betrifft, so sind wir von einem genügenden Einblick in die außerordentlich verwickelte Anordnung derselben noch weit entfernt. Man unterscheidet zwischen langen (zur Verbindung nervöser Zentren des Gehirns und des verlängerten Marks mit solchen des Rückenmarks) und kurzen Bahnen (zur Verbindung verschiedener Teile des Rückenmarks untereinander oder des Rückenmarks mit peripheren Organen). Die motorische Leitung erfolgt hauptsächlich durch die sogen. Pyramidenbahnen; diese kommen vom Gehirn her, treten durch die Pyramidenkreuzung in das R. ein und erfahren hier keine weitere Kreuzung. Hinsichtlich der Lage der sensibeln Bahnen sind die Angaben noch widersprechend. Vasomotorische Bahnen liegen hauptsächlich in den Seitensträngen und sind besonders am Halsteil des Rückenmarks nachgewiesen. Auch die Leitung für koordinierte Bewegungen scheint in den Seitengängen ihren Sitz zu haben.

Rückenmarkserschütterung, eine selten vorkommende, mit Lähmungen einhergehende Krankheit, welche mit größerer Häufigkeit bei Eisenbahnschaffnern in England beobachtet ist, wo sie Railway-spine (spr. réhlwe-spein), d. h. Eisenbahnrückgrat, genannt wird. Sie bedingt in schweren Fällen zuweilen sofortigen Tod, während in leichtern sich die Kranken allmählich erholen, jedoch noch lange die Zeichen von Störungen der Rückenmarksfunktionen darbieten. Gröbere anatomische Veränderungen des Rückenmarks sind bei Sektionen derartiger Patienten nicht nachweisbar, man nimmt deshalb feinere, bis jetzt nicht entdeckte Störungen der zelligen Elemente des Rückenmarks als Ursache an. Die ersten Erscheinungen der Krankheit pflegen in Bewußtlosigkeit, Lähmung einzelner Glieder, Atemnot und Pulslosigkeit zu bestehen. Gehen diese Symptome glücklich vorüber, so bleibt meist eine allgemeine Schwäche in den Bewegungen zurück, ebenso Gefühlsstörungen und andre Symptome nervöser Erkrankung, welche dem Arzte die Stellung der Diagnose oft erschweren. Die Dauer der Krankheit erstreckt sich meist auf lange Zeit, bis zu mehreren Jahren, und in einzelnen Fällen ist eine Heilung überhaupt nicht zu erzielen. Die Behandlung des ersten schweren Anfalles besteht in Anwendung geeigneter Reizmittel (Ätherinjektionen, starker Kaffee etc.), später ist eine fortgesetzte diätetische und elektrische Behandlung am Platz, verbunden mit dem Gebrauch kohlensäurehaltiger Eisenbäder, wie Kudowa, Elster etc. Vgl. Strümpell, Krankheiten des Nervensystems (4. Aufl., Leipz. 1887).

Rückenmarkshautentzündung (Meningitis spinalis) entsteht entweder als selbständige Krankheit oder als Fortsetzung einer Gehirnhautentzündung. Die R. betrifft entweder die harte Haut (Pachymeningitis) oder die weiche Umhüllung (Arachnitis). Die erste Form kommt für sich allein wohl nur bei entzündlichen Veränderungen, Karies, Krebs oder Tuberkulose des Wirbelkanals vor und beschränkt sich dann stets auf die eben betroffene umschriebene Stelle. Zusammen mit der Arachnitis entsteht die allgemeine R., welche in chronischer Form die meisten Fälle aufsteigender Nervendegeneration, die Rückenmarksschwindsucht (Tabes dorsualis) und auch die Altersinvolution des Markes begleitet, im letztern Fall meist mit Verknöcherung einhergehend. Die akute allgemeine R. kann durch Stoß und andre Verletzungen der Wirbelsäule selbständig und zuerst entstehen und später eine Entzündung der Hirnhäute nach sich ziehen, meistens ist der Weg aber umgekehrt, und es kommen hier dieselben Möglichkeiten in Frage wie beim Gehirn selbst: 1) eine einfache eiterige R., 2) eine epidemische eiterige R. und 3) eine tuberkulöse R. (s. Gehirnhautentzündung). Die Symptome bestehen zuerst in Krämpfen, dann in Lähmung derjenigen Gebiete, deren Nervenwurzeln innerhalb des erkrankten Gebiets den Kanal verlassen. Die R. hat in jedem Fall eine üble Bedeutung, denn wenn sie in Begleitung tiefer Nervenstörungen chronisch auftritt, so sind die Ursachen der R. für das Leben höchst bedrohlich, die akuten Formen dagegen sind an sich so gefährlich, daß eine Heilung zu den Seltenheiten gehört. Der Behandlung sind alle Fälle kaum zugänglich.

Rückenmarkskrankheiten sind im Vergleich mit den Affektionen der meisten andern Organe selten. Am häufigsten kommen angeborne Fehler vor, Spaltbildungen der Wirbelsäule (Rückgratsspalte, Spina bifida), Erweiterungen oder Doppelbildung des Zentralkanals, Verkümmerung (Atrophie) der nervösen Substanz. Im spätern Leben entstehen R. höchst selten als einzige primäre Leiden, wie z. B. Geschwülste, welche übrigens meist von den Rückenmarkshäuten ausgehen; in der Regel sind die R. fortgeleitet, entweder von der nächsten Umgebung oder von den peripherischen Nerven her, welche in das Mark eintreten. Man unterscheidet wesentlich: 1) die Rückenmarksentzündung (Myelitis), welche sich im Zwischengewebe (Neuroglia) abspielt und in akuten Fällen zur Eiterbildung, in den weit häufigern chronischen Fällen zur Verhärtung (Sklerose) führt und allgemein oder herdweise (sclérose en plaques) auftreten kann; 2) die Atrophie, welche auf Verletzungen des Rückenmarks durch Schuß oder Wirbelbrüche, durch Blutungen, Embolie oder durch Fortleitung von den peripherischen Nerven her entstehen kann. Sie betrifft bei Verletzungen meist die graue und weiße, bei Fortleitung von den Nerven aus die weiße Substanz, welche durch den Schwund der Marksubstanz (Myelin) grau wird. Daher ist Atrophie gleichbedeutend mit grauer Degeneration, sekundärer Degeneration und, da später die atrophischen Abschnitte von Bindesubstanz ausgefüllt werden, mit sekundärer Sklerose. Die R. bedingen teils Reizerscheinungen, Schmerzen, Zuckungen, Krämpfe, teils Lähmungen in den von den Rückenmarksnerven versorgten Gebieten, wie Armen, Beinen, Rumpfmuskulatur, Harnblase etc. Die Behandlung der R. gewährt Aussicht auf Erfolg, sofern es sich um die Beseitigung von Fremdkörpern, Geradehaltung der Wirbelsäule, Bekämpfung syphilitischer Entzündungen oder Geschwülste handelt. Sobald erst Atrophie eingetreten