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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russische Litteratur

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Russische Litteratur (Nationallitteratur im 19. Jahrhundert).

stisch gehalten und darum unangenehm berührend, hat derselbe eine rein sozialistische Färbung. Er wird, wenn die Zeit eine ruhigere Kritik gestatten wird, durch die meisterhafte Schilderung neuer gesellschaftlicher und staatlicher Verhältnisse, welche der Heldin des Romans in ihren Träumen vorschweben, jenen Erzeugnissen, zu denen die "Utopia" von Th. Morus gehört, beigezählt werden können. Die moderne tendenziöse Richtung der Litteratur fand ihren Hauptdichter in Nikolai A. Nekrassow (1821-77), dem eine Menge wenig begabter Reimer nachsang. Er schrieb meist Gedichte lyrisch-satirischen Inhalts; das Poem "Wem lebt sich's gut in Rußland" verrät schon durch den Titel die Tendenz. Ihm zur Seite steht als Satiriker in Prosa Michael Saltykow (pseudonym Stschedrin, geb. 1826), der mit den "Bildern aus der Provinz" seinen Ruf begründete. Seine Satire ist hauptsächlich gegen die Büreaukratie und die Auswüchse des sozialen Lebens gerichtet und zeichnet sich durch schlagenden Witz, durch originelle Erfindung und treffliche Charakteristik aus. Einen hervorragenden kleinrussischen Lyriker finden wir in Taras Schewtschenko (gest. 1861), der in schwermütigen Tönen das Leid der Bedrückten sang und in jahrelanger Kerkerhaft schmachtete. Das Leid der Bedrückten lernte auch der 1849 zu den Bergwerken Sibiriens verurteilte und erst zu Anfang der Regierung Alexanders II. begnadigte Fedor Dostojewskij (1818-81) kennen, der in den "Memoiren aus dem toten Haus" (d. h. dem Zwangsarbeitshaus, 1860) seine Erlebnisse und Beobachtungen in Sibirien ergreifend schildert und dann in dem Roman "Verbrechen und Strafe" ein großartiges, erschütterndes Bild sozialer Fäulnis entwirft, während sich in seinen spätern Romanen oft eine krankhaft überreizte Phantasie neben religiöser Mystik kundgibt.

Von Erzählern sind außerdem zu erwähnen: die Vertreter der russischen Dorfgeschichte, wie W. Dahl (pseudonym Kosak Luganskij, gest. 1872), Dmitrij Grigorowitsch (geb. 1820; "Das Dorf", "Die Fischer", "Die Übergesiedelten"), die kleinrussische Schriftstellerin Markewitsch (pseudonym Marko Wowtschok), der schon oben genannte Pisemskij ("Rübezahl", "Die Tischlerzunft") und Alexei Potjechin (geb. 1829; "Ein Blitzmädel", "Ums Geld"); ferner die Verfasser volkstümlicher Kulturgemälde, die sehr oft vom höchsten ethnographischen Wert sind, wie F. Reschetinkow ("Die Podlipowzij"), N. Leßkow (pseudonym Stebnitzki, der namentlich gelungene Typen der russischen Geistlichkeit vorführt), E. Mankow ("Schwarzerdige Felder"), Pawel F. Melnikow (pseudonym Petscherskij, gest. 1883), der in seinen Romanen: "In den Wäldern" und "Auf den Bergen" ein großartiges Gemälde von den Sitten der russischen Sektierer (Raskolniken) an der Wolga entwirft, und Grig. P. Danilewski (geb. 1829), der sich später dem rein historischen Roman zuwandte; endlich die Schilderer des russischen Proletariats: Nikolai G. Pomjalowskij (gest. 1863), Gleb I. ^[Iwanowitsch] Uspenskij und Wsewolod W. Krestowskij (geb. 1820), der Verfasser der "Petersburger Geheimnisse". Alle die Genannten werden aber weit überragt vom Grafen Leo Tolstoi (geb. 1828), der sich durch die beiden großen Romane: "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" einen Ehrenplatz in der russischen Litteratur erworben hat. Der erstere fällt in die Zeit der Napoleonischen Kriege und verherrlicht in großartiger Weise einen der herrschten Momente im Leben der russischen Nation, während der letztere, der Gegenwart entnommen, ein meisterhaftes Sittenbild aus dem Leben der höhern Gesellschaftskreise in Rußland ist, mit zahlreichen Gestalten, die wahrhaft typisch zu nennen sind. Nach L. Tolstoi ist über den russischen Roman wenig mehr zu berichten; kurz seien nur noch Graf Salias ("Die Pugatschewzen"), A. Michailow ("Brot und Schauspiele"), Boborykin ("Kitai Gorod"), der Vielschreiber Fürst Meschtscherskij, namentlich aber die fruchtbare und beliebte Schriftstellerin Nadeschda Chwoschtschinskaja (pseudonym W. Krestowskij, geb. 1825) erwähnt, die seit Jahrzehnten die russische Litteratur mit Romanen und Novellen von höchst sympathischer Tendenz und ausgezeichneter Darstellung ("Die Begegnung", "Der Bariton" etc.) bereichert hat.

Von den Lyrikern der letzten Jahrzehnte ist nach Nekrassow (s. oben) vor allen Apollon v. Maikow (geb. 1821), einer der größten russischen Dichter, von höchster Vollendung der lyrischen Formen, aber auch im epischen Gedicht und im Drama (s. unten) ausgezeichnet, daneben als ein gleich großer Meister der Form Afanasij A. Fet (geb. 1820) namhaft zu machen, letzterer im übrigen zur Familie der reinen Lyriker gehörig, ein Sänger der Liebe und Natur ("Abende und Nächte") ohne Spur von einer Tendenz. Ferner verdienen Erwähnung: die melancholisch gestimmten Dichter Jakow P. Polonskij (geb. 1820) und Alexei U. Pleschtschejew (geb. 1825), eine fast weibliche Natur von tiefer Empfindung; der Naturdichter Iwan S. Nikitin (gest. 1861); ferner P. M. Kowalewskij (geb. 1823), der kunstsinnige Graf Alexei Tolstoi (gest. 1875), der teils Altrußland im wohlgetroffenen Volkston besang, teils dem Zeitgeist in satirischen (auch epischen) Dichtungen entgegentrat, daneben auch im Roman ("Fürst Serebranyj") und im Drama (s. unten) Ausgezeichnetes leistete, und der ebenfalls noch als Dramatiker zu nennende Lew Mey, in dessen "Russischen Liedern" der rührende Ton des Volksliedes nicht weniger meisterhaft getroffen ist; endlich die Slawophilen Fjodor I. ^[Iwanowitsch] Tjutschew (gest. 1873), ein sinniger Naturmaler, und Iwan Aksakow (gest. 1886), dessen Gedichte vom hohen Bewußtsein der Bürgerpflicht und sittlichen Stärke getragen sind. Auch Turgenjew hat vorzügliche lyrische Dichtungen hinterlassen.

Auf dramatischem Gebiet haben sich in den letzten Dezennien namentlich der sehr fruchtbare Alex. N. Ostrowskij (geb. 1823) sowohl im Lustspiel ("Armut ist kein Fehler") als im ernsten Volksdrama ("Das Gewitter", "Fehl und Leid", "Ein warmes Herz") und der schon genannte Pisemskij ("Bitteres Los") hervorgethan. Das tendenziöse Gesellschaftsdrama wurde besonders von Suhowo-Kobylin ("Die Hochzeit Kretschinskijs"), N. Ljow ("Es gibt noch rechtschaffene Leute auf der Welt") und Alexei Potjechin ("Rauschgold", "Das losgerissene Glied") sowie namentlich auch von Turgenjew ("Der Hagestolz", "Das Frühstück beim Adelsmarschall"), ferner von N. Potjechin ("Der Dämon des Tags", "Die geistig Armen") und N. Solowjew ("Belugins Heirat") mit Erfolg kultiviert. Das historische Drama fand talentvolle Pfleger (außer Ostrowskij, der "dramatische Chroniken" lieferte) in Lew A. Mey (gest. 1862; "Die Psokowiterin") und namentlich im Grafen Alexei Tolstoi (1817-75), dem Verfasser des Dramas "Don Juan" und der Trilogie "Der Tod Joanns des Schrecklichen", "Zar Fjodor Joannowitsch" und "Zar Boris". Endlich ist noch der hochpoetischen lyrischen Dramen A. Maikows: "Drei Tode" und "Zwei Welten", in welch letzterm der Kampf der griechisch-römischen Welt mit der christ-^[folgende Seite]