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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russisches Reich

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Russisches Reich (Stände, Bildung und Unterricht).

Somit ist das griechisch-orthodoxe Element im russischen Reich entschieden überwiegend und wird durch Gesetze vor den übrigen Konfessionen bevorzugt. Die orthodoxe Bevölkerung aller Eparchien des Reichs bezifferte sich 1880 auf 63,132,740 Seelen. Für sie sind vorhanden 56 Bischofsitze, 385 Mönchsklöster, 177 Nonnenklöster, 41,047 Kirchen, 13,877 Kapellen und Bethäuser. Die Zahl der bei einzelnen Kirchen und Klöstern vorhandenen Armenhäuser beläuft sich auf 484. In den Mönchsklöstern sind 11,184, in den Nonnenklöstern 21,456 Insassen. An sämtlichen Kirchen fungieren 1439 Oberpriester, 35,978 Priester, 7706 Diakonen und 48,623 Kleriker. Die römisch-katholische Bevölkerung hatte 1885: 1287 Kirchen und 1453 Geistliche, die protestantische 708 Kirchen und 471 Geistliche, die armenisch-gregorianische 37 Kirchen mit 84 Geistlichen, die jüdische 347 Synagogen. Sehr ausgedehnt ist unter den Griechisch-Gläubigen das Sektenwesen (s. Raskolniken). Mit Ausnahme Finnlands und der Ostseeprovinzen (Esthland, Livland und Kurland) dürfen die Kinder aus Mischehen nur in der griechisch-russischen Konfession erzogen werden; Ehen zwischen Juden und Christen sind überhaupt nicht gestattet. Die katholische Kirche zählt die meisten Bekenner in Polen und Litauen, die evangelisch-lutherische ist vorherrschend in den Ostseeprovinzen und in Finnland. Die Zentralbehörde in kirchlichen Dingen der orthodoxen Konfession ist der heilige Synod, zusammengesetzt aus hohen weltlichen und geistlichen Würdenträgern, Metropoliten und Erzbischöfen. Unter dem Synod stehen sodann die Eparchien (Diözesen ersten, zweiten und dritten Ranges). Die russische Geistlichkeit zerfällt in eine schwarze und eine weiße, von denen die erstere die Mönche und die aus ihnen hervorgegangenen höhern und höchsten Geistlichen, die alle im Cölibat leben müssen, umfaßt; die weiße Geistlichkeit bilden die Weltgeistlichen, die in Seminaren und geistlichen Akademien erzogen werden und verheiratet sein müssen (vgl. Russische Kirche). Die andern christlichen Konfessionen stehen unter dem Departement "ausländischer Konfessionen" des Ministeriums des Innern, haben aber eigne Konsistorien, die aus Weltlichen und Geistlichen zusammengesetzt sind. Für die evangelische Kirche ist das Generalkonsistorium in Petersburg die Oberbehörde, welche über den zahlreichen übrigen evangelisch-lutherischen Konsistorien steht. Sämtliche Prediger Rußlands müssen bei der theologischen Fakultät in Dorpat das Examen absolvieren. An der Spitze der katholischen Kirche steht ein Erzbischof.

Stände.

Der frühere strenge Standesunterschied in Rußland ist seit der Aufhebung der Leibeigenschaft (1861), der Beschränkung der Adelsrechte und der Berechtigung sämtlicher Stände, Land zu besitzen, geschwunden. Immerhin scheidet man noch die Bewohner in folgende Stände: Adel, sogen. Exemte, Geistlichkeit, städtische Stände (nämlich Kaufleute und Gewerbtreibende) und ländliche Stände oder Bauernstand. Was zunächst den Adel betrifft, so ist der alte russische Bojarenadel seit der Krëierung des Verdienstadels durch Peter d. Gr. (1722) dem letztern ganz gleichgestellt. Gegenwärtig erhält man den Erbadel durch Erlangung des Ranges eines Wirklichen Staatsrats oder eines Obersten, durch Verleihung eines Ordens erster Klasse oder durch Verleihung irgend einer Klasse des Wladimir-Ordens. Der russische Adel unterscheidet sich besonders dadurch von dem deutschen in den russischen Ostseeprovinzen, daß von Lehnsverhältnissen bei ihm nie die Rede war und Fideikommisse und Majorate bei ihm nur selten vorkommen. Adlige Titel, wie Graf und Baron, haben von den Ostseeprovinzen her Eingang gefunden. Als Korporation tritt der Adel noch in den neuerlich indes aller politischen Befugnisse beraubten Adelsversammlungen der Gouvernements auf. Nur der Adel Esthlands, Livlands, Kurlands und Ösels bildet politische Körperschaften und hält jährlich seine Landtage ab. Im europäischen Rußland, außer Finnland, zählte der Erbadel 1870: 604,467 Glieder. Zum Stande der sogen. Exemten (Steuerfreien) gehören Beamte, Gelehrte, Künstler und Ehrenbürger, und die Zahl der Glieder dieses Standes betrug 359,959 (in dieser Zahl sind wiederum Finnland und Polen nicht mit eingeschlossen, so auch in den folgenden Angaben über die Kopfzahl der einzelnen Stände). Die Geistlichkeit mit ihren Familien wird zu 615,330 Personen angegeben. Zu den städtischen Ständen gehören vorzüglich die Kaufleute und die Gewerbteibenden ^[richtig: Gewerbtreibenden]. Zum Kaufmannsstand gehörten 466,000, zu den städtischen Ständen überhaupt 7,113,330 Personen. Der Bauernstand zählte 58,125,386 Köpfe, von denen über 23 Mill. zu den Reichsdomänen gehören; die übrigen sind meist frühere Leibeigne, die durch kaiserliches Gebot sämtlich frei geworden sind und auf den Gütern der Gutsherren leben oder sich selbst Besitzungen gekauft haben; Bauern der kaiserlichen Apanagen und andrer Verwaltungswege gibt es über 3 Mill. Nicht unbedeutend ist auch die Zahl der verabschiedeten Soldaten, die mit ihren Familien 1½ Mill. stark sind, und die Bewohner jener Landesteile, welche irreguläre Truppen stellen, wie z. B. das Gebiet der Donischen Kosaken und das Gouvernement Orenburg, an Zahl über 1,700,000.

Bildung und Unterricht.

Auf dem Gebiet der geistigen Kultur ist in Rußland noch immer nicht gehörig gesorgt, und zur Verwirklichung des Schulzwanges ist man noch nicht geschritten, obwohl die Wichtigkeit der Einführung desselben bereitwillig anerkannt wird. Elementarschulen gab es 1885 im europäischen Rußland 33,835 mit 1,869,982 Lernenden, darunter 1,444,409 Knaben und nur 452,573 Mädchen; außerdem in den polnischen Gouvernements 3684 Schulen mit 205,980 Lernenden, nämlich 133,948 Knaben und 72,032 Mädchen. Seminare zur Heranbildung von Volkslehrern zählt man 74 mit 5104 Lernenden für Knabenschulen und 9 mit 1160 Lernenden für Mädchenschulen, die teils vom Staate, teils von der Landschaft unterhalten werden. In jeder Kreisstadt und in den Gouvernementsstädten befinden sich Kreisschulen, zu denen die Lehrer nach einem bestimmten Programm an den Gymnasien geprüft werden; die der Stadtschulen werden in besondern Lehrerinstituten gebildet, von denen bis jetzt fünf eröffnet sind. Die absolut größte Zahl von Schulen (1917) hatte das Gouvernement Livland, auf welches 19 Gouvernements, meist solche, in welchen Juden und Mohammedaner angesiedelt sind, mit 713-1424 Schulen folgen. In Bezug auf das Verhältnis der Zahl der Schulen zur Bevölkerung zeigt den günstigsten Stand das Gouvernement Esthland: eine Schule auf 536 Einw. Auf weniger als 1000 Einw. kommt eine Schule in Livland (628), Warschau (763), Sjedlez (799), Suwalki (831) und in acht andern polnischen sowie finnischen Gouvernements.

So unbefriedigend zur Zeit der Stand der Volksbildung ist, so unvollkommen fällt auch das System der Sekundärschulen aus. Die Zahl der 1885