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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russisches Reich

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Russisches Reich (Geschichte 862-1054).

unter ihren Seekönigen kamen in immer größern Scharen nach dem Gebiet des Ladogasees, das sie zeitweilig unterwarfen. Obwohl es den vereinigten Finnen und Slawen gelang, sie wieder zu vertreiben, wurden dieselben doch bald, um die Mitte des 9. Jahrh., durch innere Wirren veranlaßt, von den Warägern sich Fürsten zu holen. Drei Brüder, Rurik (Hrurekr), Sineus (Sikniutr) und Truwor (Thorvadr), folgten dem Ruf und gründeten sich in Ladoga, Bjelo Osero und Isborsk Fürstentümer, welche nach dem frühen Tod seiner Brüder Rurik unter seine Herrschaft vereinigte. So entstand das russische Reich, als dessen offizielles Gründungsjahr 862 angenommen wird. Rurik verlegte seinen Sitz nach Nowgorod, von wo er seine Macht bis zum Wolok ausdehnte. Zwei seiner Mannen, die Waräger Askold und Dir, setzten sich in Kiew fest und unternahmen von hier aus 865 mit 300 Booten und 14,000 Mann einen Raubzug gegen Konstantinopel, der aber scheiterte.

Rurik starb 879 und hinterließ nur einen unmündigen Sohn, Igor, für den ein älterer Verwandter, Helgi oder Oleg (879-912), die Herrschaft übernahm. Dieser besetzte Smolensk im Lande der Kriwitschen, drang dann den Dnjepr abwärts in das Gebiet der Sewerjänen und bemächtigte sich 882 Kiews, nachdem er Askold und Dir hatte töten lassen. Er unterwarf mit Ausnahme der Ulitschen alle russischen Stämme. 907 zog er mit 80,000 Mann Warägern und Slawen auf 2000 Booten gegen Konstantinopel und setzte die Griechen (Rhomäer) so in Schrecken, daß deren Kaiser Leo VI. sich zu einem 911 bestätigten Handelsvertrag verstand, der den Russen große Handelsvorteile und Vorrechte zugestand. Nach Olegs Tod folgte Ruriks Sohn Igor (912-945), der mit einer Skandinavierin fürstlichen Geschlechts, Helga oder Olga, vermählt war. Anfangs überließ er die Regierung seinem Mannen Svenald; erst später führte er sie selbst und zog 941 gegen Konstantinopel, das aber durch das griechische Feuer, welches die russische Flotte zerstörte, gerettet ward. Erst auf einem zweiten Zug erlangte Igor eine Erneuerung des Vertrags von 911. Er fiel bei einem Aufstand der Drewljänen 945 und hinterließ einen minderjährigen Sohn, Swjätoslaw (945-973), für den bis 964 Olga die Vormundschaft führte. Dieselbe nahm an den Drewljänen grausame Blutrache, ordnete die Tributverhältnisse der unterworfenen Stämme und regelte in umsichtiger Weise den fürstlichen Haushalt. 957 zog sie mit großem Gefolge nach Konstantinopel und trat hier in Gegenwart des Kaisers Konstantin Porphyrogennetos, der ihr Pate war, zum Christentum über, wobei sie den Namen Helena empfing. Obgleich in Kiew schon vorher eine ansehnliche Christengemeinde bestand, blieb Swjätoslaw unter dem Einfluß seiner warägischen Umgebung dem Heidentum getreu. Nachdem er 964 die Herrschaft selbst angetreten, unternahm er einen Feldzug gegen die Chasaren, deren wichtigste Städte er einnahm, und deren Macht er für immer brach, besiegte darauf die Wjätitschen und zog 968, vom byzantinischen Kaiser Nikephoros durch eine große Geldsumme gewonnen, mit 60,000 Mann gegen die Donaubulgaren. Er eroberte einen großen Teil ihres Gebiets, mußte aber dann nach Kiew zurückkehren, das von den Petschenegen hart bedrängt wurde. Er besiegte dieselben, teilte aber dann sein russisches Reich unter seine drei unmündigen Söhne, Jaropolk, Oleg und Wladimir, und zog 970 wieder nach Bulgarien, das er für sich erobern wollte. Er drang bis über den Balkan vor, wurde aber dann von den Byzantinern bei Arkadiopol und bei Drstr (Silistria) geschlagen und mußte, in Drstr eingeschlossen, den Kaiser Johann Tzimisces um Frieden bitten, der ihm freien Abzug gewährte. Auf dem Rückweg nach Kiew wurde Swjätoslaw von den Petschenegen erschlagen (973).

Nach seinem Tod brach zwischen seinen Söhnen Zwist aus; Jaropolk von Kiew vertrieb 977 Oleg, der auf der Flucht ertrank, und Wladimir, der über das Meer zu den Warägern floh, aber bald von da mit einem Warägerheer zurückkehrte, Jaropolk aus Kiew verjagte und dann meuchlings töten ließ (980). Nun ward Wladimir der Heilige (980-1015) Alleinherrscher. Er war anfangs ein eifriger Anhänger des Heidentums und ließ den von ihm in Kiew neuaufgerichteten Götzenbildern Menschenopfer darbringen. Der anmaßenden Waräger wußte er sich zu entledigen, indem er sie nach Byzanz schickte, und unterjochte darauf die Wjätitschen, Radimitschen und Wolgabulgaren. Von den byzantinischen Kaisern gegen einen Aufstand zu Hilfe gerufen, schickte er ihnen ein warägisches Heer und zog selbst nach der Krim, wo er Cherson eroberte. Auf sein Verlangen erhielt er die griechische Prinzessin Anna, Schwester der deutschen Kaiserin Theophano, zur Gemahlin, worauf er Cherson zurückgab und selbst zum Christentum übertrat (989). Die Götzenbilder in Kiew ließ er zerschlagen, das des höchsten Gottes Perun in den Dnjepr werfen und befahl, daß alles Volk sich taufen lasse. In Kiew und der Umgegend wurde dem Befehl bereitwillig Folge geleistet, während der Norden und Osten Rußlands erst später sich vom Heidentum lossagten. Dadurch, daß die Russen das Christentum und damit die höhere Kultur von Byzanz empfingen, erlangten sie zwar manche Vorteile für ihren Handel und Verkehr, traten aber zu dem Abendland in einen Gegensatz, der ihre Entwickelung hemmte, zumal das griechische Kaiserreich, von dem ihre Kultur nun abhängig wurde, bereits im Verfall war.

Wladimir beförderte die Ausbreitung des Christentums durch die Verkündigung desselben in slawischer Sprache und durch volkstümliche Gestaltung der christlichen Feste. Als er 1015 starb, stritten sich seine acht Söhne um die Herrschaft. Swjätopolk warf sich zum Herrn in Kiew auf und ließ drei seiner Brüder, Boris, Gleb und Swjätoslaw, ermorden, ward aber 1016 von seinem ältern Bruder, Jaroslaw von Nowgorod, am Dnjepr besiegt und gezwungen, bei seinem Schwiegervater Boleslaw Chrobry von Polen Zuflucht zu suchen. Zwar wurde er von diesem nach einem Sieg über Jaroslaw am Bug (1017) zurückgeführt, konnte sich aber, als Boleslaw wieder nach Polen abzog, nachdem er sich der tscherwenischen Städte bemächtigt hatte, nicht halten, wurde trotz seines Bundes mit den Petschenegen 1019 von Jaroslaw an der Alta besiegt und floh ins Ausland, wo er starb. Jaroslaw (1019-1054) mußte seinem Neffen Brjätschislaw von Polozk die Städte Witebsk und Usjwät und seinem Bruder Mstislaw von Tmutarakan nach einer Niederlage bei Listwen (1023) das Land östlich vom Dnjepr abtreten (1026). Darauf wurden die Esthen unterworfen und den Polen 1031 die tscherwenischen Städte wieder entrissen, und nach Mstislaws Tod (1034) wurde Jaroslaw Alleinherrscher. Er machte durch einen glänzenden Sieg die Petschenegen für immer unschädlich, während ein Zug seines Sohns Wladimir gegen Konstantinopel mit völliger Vernichtung des russischen Heers endete. Das Christentum befestigte er durch den Bau steinerner Kirchen in Kiew u. a. O., und