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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russisches Reich

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Russisches Reich (Geschichte 1854-1863).

sische Armee nicht im stande, die Alliierten aus der Krim zu vertreiben. Die Verpflegung, Ergänzung und Verstärkung des Heers in der Krim waren durch den völligen Mangel an Verkehrsmitteln in dem ungeheuern Reich so erschwert, daß die scheinbar unerschöpflichen Hilfsquellen an Lebensmitteln und Menschen nutzlos blieben. Obwohl die feindlichen Flotten den russischen Küsten keinen ernstlichen Schaden zufügten, so vernichtete doch ihre Blockade den russischen Handel, dem sie bloß die Landgrenze gegen Österreich und Preußen offen ließ, und erschütterte den dürftigen Wohlstand des Volkes auf lange Jahre; "Rußland erstickte in seinem Fett", wie man damals sagte, da es nur Rohprodukte erzeugte, die es während des Kriegs nicht gegen die Erzeugnisse der Industrie umsetzen konnte. Endlich zerrütteten die Kosten des Kriegs die seit langem verwahrlosten und verschwenderisch verwalteten Finanzen. Diese herben Erfahrungen mußten einem Herrscher von dem Stolz und dem Selbstbewußtsein des Zaren besonders schmerzlich sein; in der That begann seine bis dahin eisenfeste Gesundheit zu wanken, und als im Frühjahr 1855 die Kämpfe in der Krim von neuem und zwar mit einem unglücklichen Gefecht der Russen begannen, starb er plötzlich 2. März 1855. Ihm folgte sein ältester Sohn, Alexander II. (1855-81), welcher vorläufig den Krieg fortzusetzen gezwungen war, da vor einer Entscheidung vor Sebastopol keiner der Kriegführenden Frieden schließen wollte. Nachdem aber 8. Sept. 1855 Sebastopol gefallen und durch die Eroberung von Kars 27. Nov. auch der russischen Waffenehre Genüge geschehen war, kam es 30. März 1856 auf dem Pariser Kongreß zum Frieden. Rußland trat die Donaumündungen mit einem Teil Bessarabiens ab und gab Kars zurück, versprach, keine Seearsenale am Schwarzen Meer anzulegen und auf demselben nicht mehr Kriegsschiffe zu unterhalten als die Türkei, und verzichtete auf das Protektorat über die orientalischen Christen und die Donaufürstentümer, welche unter das Gesamtprotektorat der europäischen Großmächte gestellt wurden.

Die Regierung Alexanders II.

So schwere Wunden der Krimkrieg Rußland geschlagen hatte, so war er dennoch für dasselbe von den größten und wohlthätigsten Folgen. Denn die Mißerfolge und Verluste, die es in demselben erlitten hatte, zwangen es zur Selbstbeschränkung, dann aber zu einer Reform der innern Zustände, welche die hervorgetretenen Schäden beseitigte und eine gedeihliche Entwickelung des Volkes möglich machte. Diese Aufgabe ergriff der neue Kaiser, der am 7. Sept. 1856 feierlich gekrönt wurde, mit ernstem Sinn und verfolgte sie mehrere Jahre hindurch trotz aller Schwierigkeiten mit Beharrlichkeit und ohne Entmutigung. Die auswärtige Politik, welche nach Nesselrodes Rücktritt Fürst Gortschakow leitete, war vorsichtig und maßvoll. Mit Preußen wurde wieder ein engeres Verhältnis angeknüpft. Namentlich aber suchte Rußland eine Annäherung an Frankreich, die Napoleon III. durch sein Entgegenkommen erleichterte. Nur gegen Österreich, dessen orientalische Politik während des Krimkriegs die Russen als schnöden Undank ansahen, blieb die russische Politik kühl, fast feindlich, vermied aber sorgsam alle Verwickelungen. Schon drei Wochen nach dem Pariser Frieden löste Alexander die Reichswehr auf und ordnete bei der stehenden Armee eine Reduktion an, durch welche an 200,000 Soldaten dem bürgerlichen Leben zurückgegeben wurden. Ganz Rußland wurde auf vier Jahre von der Rekrutierung befreit, 24 Mill. Rubel Steuerrückstände erlassen und endlich für die Verurteilten von 1825 eine Amnestie verkündigt. Während es bisher nur eine Eisenbahn von Petersburg nach Moskau gegeben hatte, wurde jetzt ausländisches Kapital für den Bau großer Linien nach allen Richtungen des Reichs gewonnen und 1862 eine Eisenbahnverbindung mit Deutschland vollendet. Ein neuer Zolltarif bahnte den Übergang vom Prohibitivsystem zu den Schutzzöllen an. Die Zensur wurde gemildert, und eine russische Presse entstand. Für das Volksschulwesen wurden wichtige Anordnungen getroffen. Die wichtigste Reform aber war die Aufhebung der Leibeigenschaft, welche 3. März 1861 durch kaiserliches Manifest erfolgte.

Die Befreiung der Leibeignen, deren Zahl sich auf 23 Mill. Seelen belief, war zwar unvermeidlich, wenn Rußland ein Kulturstaat werden wollte, aber schwierig, da die bisherigen agrarischen Verhältnisse auf der Leibeigenschaft beruhten. Die zur Begutachtung des Plans berufenen Adelsversammlungen hatten daher sich gegen die Emanzipation ausgesprochen, welche ihre Einkünfte erheblich verringern würde, besonders durch Fortfall des "Obrok", des Zinses, den die Leibeignen für die Erlaubnis, selbständig ihren Lebensunterhalt zu erwerben, ihren Leibherren zahlen mußten. Aber der Kaiser ließ sich nicht beirren und gab durch die gänzliche Befreiung der Bauern auf den kaiserlichen Gütern und die unentgeltliche Überweisung der von ihnen bebauten Grundstücke ein hochherziges Beispiel. Jeder Bauer sollte fortan nicht bloß frei sein, sondern auch eine umzäunte Wohnstätte erhalten und in stand gesetzt werden, innerhalb von zwölf Jahren durch Geld oder Leistungen an den Grundherrn das freie Eigentum an einem Stück Grund und Boden zu erwerben. Die Bauernschaften sollten Landgemeinden bilden mit eignen Friedensrichtern, aber unter polizeilicher Aufsicht des Grundherrn. Die Ausführung der Emanzipation, die 1863 im wesentlichen beendet war, stieß zwar auf mancherlei Hindernisse, auch bei den Bauern selbst, die in der irrigen Meinung, mit der Freiheit sei ihnen auch der unbedingte Besitz ihrer Felder und Wiesen zugesprochen, sich zu Arbeit- und Abgabenverweigerungen, zu Aufständen und Gewaltthaten hinreißen ließen; und auch später erfüllten sich nicht alle Hoffnungen auf die geistige und materielle Entwickelung der Landbevölkerung. Dennoch war die That des "Zar-Befreiers" ein großes, edles und segensreiches Werk.

Daran schloß sich eine Reform der Rechtspflege durch Einführung von Friedens- und Geschwornengerichten mit öffentlichem Verfahren und mündlicher Verhandlung (1864) und die Errichtung von Kreis- und Provinzialversammlungen, die aus Delegierten des Adels und der grundbesitzenden und städtischen Notabilität gebildet wurden. Hierdurch sollte die Bevölkerung zur politischen Thätigkeit und Selbständigkeit des Urteils in öffentlichen Angelegenheiten erzogen und der Übergang zu einer ständischen Reichsverfassung angebahnt werden, welche wieder die kaiserliche Gewalt bei der Beseitigung des Krebsschadens im Reich, der Korruption des Beamtentums, wirksam hätte unterstützen können. Dann erst durfte man hoffen, auch die Finanzen zu regeln; einstweilen erfolgte 1862 ein wichtiger Schritt, indem zum erstenmal ein vollständiges Reichsbudget veröffentlicht wurde. Indes erfuhr die Reformthätigkeit des Kaisers eine Unterbrechung durch den Aufstand der Polen (Januar 1863), welcher gerade durch die Milde und Nachgiebigkeit des Kaisers hervorgerufen worden war. Derselbe hatte nicht nur gleich nach seiner Thronbesteigung den auf dem Land lastenden Druck