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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russisches Reich

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Russisches Reich (Geschichte 1877-1878).

Ardahan und schloß Kars ein, das jedoch durch den Sieg Mukhtar Paschas über Loris Melikow bei Sewin (25. Juni) entsetzt wurde; die Russen mußten Mitte Juli auf ihr Gebiet zurückweichen. Einen ähnlichen Verlauf, anfängliche Erfolge, dann empfindliche Schläge, hatte aus gleichem Grund, nämlich Unterschätzung des Gegners, der Krieg in Bulgarien. Wegen des hohen Wasserstandes der Donau konnten die Russen mit ihrer Hauptmacht erst 27. Juni bei Simnitza den Strom überschreiten, rückten dann aber, von den Türken wenig gehindert, rasch vor, erreichten bereits 7. Juli Tirnowa, und General Gurko überschritt 13. Juli den Balkan, bemächtigte sich des Schipkapasses und ließ seine Reiterabteilungen bis zwei Tagemärsche vor Adrianopel schweifen. Aber als 20. Juli General Schilder-Schuldner Plewna angriff, wurde er von Osman Pascha mit empfindlichem Verlust zurückgeschlagen und Lowatz den Russen 27. Juli entrissen; ein zweiter, mit größern Streitkräften unternommener Angriff Krüdeners und Schachowkois auf die Stellung bei Plewna, die Osman Pascha rasch befestigt und mit 50,000 Mann besetzt hatte, 30. Juli hatte ebenfalls keinen Erfolg, und da auch östlich der Jantra beträchtliche Streitkräfte der Türken standen, so war die Rückzugslinie der Russen nach der Donau ernstlich bedroht. Auch Gurko war aus Rumelien von Suleiman Pascha vertrieben worden und mußte sich nach dem Schipkapaß zurückziehen. Wären die türkischen Befehlshaber einig gewesen, und hätten sie die Russen entschlossen angegriffen, so würden sich diese kaum auf das linke Donauufer haben retten können. Indes Osman Pascha in Plewna und Mehemed Ali am Lom blieben unthätig, und Suleiman Pascha vernichtete eine ausgezeichnete Armee durch kühne, aber völlig aussichtslose und äußerst blutige Angriffe auf die russischen Stellungen am Schipkapaß (August). Dadurch gewannen die Russen Zeit, Verstärkungen aus Rußland und die rumänische Armee heranzuziehen und eine ungeheure Heeresmacht um Plewna zu vereinigen. Nach einem mehrtägigen Bombardement wurde 11. Sept. ein Sturm auf die Schanzen von Plewna versucht und auf den Flügeln von Skobelew und den Rumänen auch einige Schanzen erobert. Da der russische Angriff aber im Zentrum gescheitert war, so eroberten die Türken 12. Sept. die verlornen Schanzen fast alle wieder, und das Blut von 16,000 Mann war vergeblich geflossen. Nun wurde Totleben berufen, um die Zernierung und regelrechte Belagerung Plewnas zu leiten, und Osman Pascha die Verbindung mit Sofia durch Gurko abgeschnitten. Immer enger eingeschlossen und ohne Lebensmittel, versuchte Osman Pascha 10. Dez. einen Durchbruch nach Widdin, welcher aber von den von dieser Absicht unterrichteten Russen leicht zurückgewiesen wurde, worauf die Türken in Plewna, noch 40,000 Mann stark, nach 143tägigem tapfern Kampf sich ergaben.

Inzwischen war auf dem asiatischen Kriegsschauplatz ein vollständiger Umschwung zu gunsten der Russen eingetreten, nachdem dieselben bei einem erneuten Vorstoß im August wieder zurückgewiesen worden waren. Aber 15. Okt. siegten sie entscheidend am Aladja Dagh und 4. Nov. bei Dewe-Boyun und erstürmten 18. Nov. Kars, worauf die Türken Armenien völlig preisgaben und nur der Winter dessen Eroberung verhinderte. In Bulgarien überschritt Gurko Ende Dezember den Etropol-Balkan, besetzte 3. Jan. 1878 Sofia und drang in das Thal der Maritza vor, in welches vom mittlern und östlichen Balkan die Armee des Zentrums, nachdem sie 9. Jan. die türkische Schipka-Armee gefangen genommen hatte, und die Lomarmee herabkamen. Die Russen vereinigten sich in Philippopel, vernichteten hier 17. Jan. die letzte türkische Armee unter Suleiman, besetzten 22. Jan. Adrianopel und erreichten 29. Jan. bei Rodosto das Marmarameer. Der am 31. Jan. in Adrianopel abgeschlossene Waffenstillstand hemmte den weitern Vormarsch. Als jedoch die englische Flotte in das Marmarameer einfuhr, rückten die Russen bis dicht vor Konstantinopel vor und schlossen 3. März den Frieden von San Stefano, in welchem die Türkei einen Teil Armeniens mit Ardahan, Kars, Batum und Bajesid an Rußland, die Dobrudscha an Rumänien, andre Gebiete an Serbien und Montenegro abtrat und diese Staaten als unabhängig anerkannte und in die Bildung eines autonomen Fürstentums Bulgarien willigte, das außer Bulgarien selbst den größten Teil Rumeliens bis zum Ägeischen Meer und den nördlichen Teil Makedoniens umfassen sollte. Diese letztere Bestimmung, welche den Rest der europäischen Türkei in zwei Teile zerschnitt, rief aber den energischen Einspruch Englands hervor, das eifrig rüstete, indische Truppen nach Malta zog und mit Krieg drohte, wenn Rußland nicht den Friedensvertrag einem Kongreß, den auch Österreich verlangte, zur Prüfung und Genehmigung unterbreite. Da Rußland erkannte, daß es diesmal England mit seinen Drohungen Ernst sei, und einen Krieg mit dieser Macht nicht führen konnte, so mußte es sich zur Beschickung des Berliner Kongresses bequemen, welcher 13. Juli bestimmte, daß der Umfang Bulgariens beschränkt und dasselbe in zwei Teile, das Fürstentum Bulgarien und die autonome Provinz Ostrumelien, geteilt, Bajesid der Türkei zurückgegeben, dagegen Kars, Ardahan und Batum sowie das 1856 von Rußland abgetretene rumänische Bessarabien gegen die Dobrudscha an Rußland fallen sollten; die Regelung der Frage einer Kriegsentschädigung wurde der direkten Verständigung der Türkei und Rußlands überlassen, die 8. Febr. 1879 durch Abschluß eines definitiven Friedens erfolgte; die Türkei versprach die Zahlung von 300 Mill. Rubel Kriegskosten, und die Russen räumten das türkische Gebiet.

So endete dieser Krieg mit Gebietserwerbungen, welche die ungeheuern Opfer an Menschen (auf dem europäischen Kriegsschauplatz allein 172,000 Mann) und an Geld (500 Mill.) nicht aufwogen. Im russischen Heerwesen, namentlich in der Verpflegung und im Lazarettwesen, hatten sich erhebliche Schaden gezeigt, und wenn auch das militärische Ansehen Rußlands durch die letzten Erfolge wiederhergestellt worden war und die befreiten Bulgaren sich dankbar zeigten, so war doch Griechenland unter dem Einfluß Englands ganz, Serbien unter dem Österreichs bis zum letzten Abschnitt des Kriegs neutral geblieben. Rumänien war erbittert, daß sein Beistand, ohne den die Russen im Sommer 1877 sich in Bulgarien nicht hätten behaupten können, ihm nicht nur nicht gedankt, sondern ihm sogar noch Bessarabien entrissen wurde. Vor allem aber war man in Rußland verletzt, daß Österreich, dem gemäß seinem Vertrag vom Januar 1877 in Berlin Bosnien und die Herzegowina zugesprochen wurden, damit, ohne einen Mann und einen Gulden geopfert zu haben, diese herrschende Position auf der Balkanhalbinsel gewann. Die Presse und die Führer der panslawistischen Partei schoben die Schuld an diesem ungünstigen Ergebnis dem Verhalten Deutschlands zu, das sich undankbar bewiesen habe, und fanden mit dieser unbegründeten Behauptung um so mehr Glauben bei der Menge, als selbst