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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Russisches Reich

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Russisches Reich (Geschichte: neueste Zeit).

hochgestellte Männer, namentlich Gortschakow, sie bestätigten und gegen Österreich und Deutschland eine immer schroffere Haltung annahmen, während mit Frankreich Beziehungen angeknüpft wurden. Als Rußland sich schließlich sogar zu Drohungen gegen Deutschland verstieg, löste der deutsche Reichskanzler das bisherige engere Verhältnis zu Rußland und schloß 7. Okt. 1879 ein Schutz- u. Trutzbündnis mit Österreich.

Auch im Innern hatte der Krieg bemerkenswerte Folgen. Die lange Dauer desselben, die Wechselfälle des Glücks in ihm, die bedeutenden Opfer und Kosten und das zweifelhafte Ergebnis regten die Nation in ihren Tiefen auf und erweckten, da die panslawistischen Hoffnungen sich nicht erfüllt hatten, die Wühlereien der Nihilisten (s. d.), welche durch Schreckensthaten eine Änderung des Regierungssystems zu erzwingen strebten. Hervorgegangen aus dem geistigen Proletariat, das keine seinen Ansprüchen genehme Beschäftigung fand, erhofften die Nihilisten von einem völligen Umsturz alles Bestehenden die Erfüllung ihrer politischen und sozialen Ideen und fanden unter der männlichen und weiblichen Jugend, die von den herrschenden Zuständen angeekelt war, zahlreiche Anhänger. Sie verfügten über bedeutende Mittel und konnten sich, begünstigt durch die Bestechlichkeit der Beamten und die Gleichgültigkeit der gebildeten Klassen, vortrefflich organisieren; sie gründeten ein revolutionäres Exekutivkomitee, überzogen das Land mit Zweigvereinen, gründeten geheime Druckereien und gaben Manifeste und Zeitungen heraus. Schon 1878 geschahen das Attentat der Wjera Sasulitsch auf General Trepow, die Freisprechung derselben durch das Geschwornengericht und die Ermordung des Chefs der Gendarmerie, Generals Mesenzow, der am 21. Febr. 1879 die des Gouverneurs von Charkow, Fürsten Krapotkin, und das Attentat auf Mesenzows Nachfolger, General Drenteln (25. März 1879), folgten; mehrere andre Personen wurden in der Provinz ermordet. Noch größern Schrecken verbreiteten drei Mordversuche auf den Kaiser: 14. April 1879 schoß Solowjew in Petersburg auf Alexander II., 1. Dez. explodierte auf dem Bahnhof in Moskau eine Mine, welche den Zug in die Luft sprengen sollte, mit welchem der Kaiser aus dem Süden zurückkehrte, und 17. Febr. 1880 wurde das Erdgeschoß unter dem Speisesaal des Winterpalais in Petersburg in die Luft gesprengt. Es wurden nun die umfassendsten Maßregeln getroffen, um die öffentliche Sicherheit zu schützen, die tüchtigsten Generale an die Spitze der Generalgouvernements gestellt, in welche das Reich geteilt wurde, und ihnen außerordentliche Vollmachten verliehen und schließlich eine oberste Exekutivkommission eingesetzt, deren Chef, General Loris-Melikow, eine Art Diktatur ausübte. Auch wurden viele Mitglieder der nihilistischen Verschwörung entdeckt und teils mit dem Tode, teils mit Zwangsarbeit bestraft. Mit diesen Zwangsmitteln begnügte sich aber Alexander II. nicht; auf den Rat Loris-Melikows, der im August 1880 zum Minister des Innern ernannt wurde, wollte er das Reformwerk des Beginns seiner Regierung durch die Berufung einer Nationalvertretung krönen, die an seinem Geburtstag, 29. April, erfolgen sollte: da fiel er 13. März 1881 einem neuen Attentat der Nihilisten, die Dynamitbomben gegen ihn schleuderten, zum Opfer.

Neueste Zeit.

Alexanders Sohn und Nachfolger Alexander III. der unter dem furchtbaren Eindruck der That vom 13. März den Thron bestieg, führte den Plan seines Vaters, eine Konstitution zu geben, nicht aus, verkündete vielmehr in einem Manifest 11. Mai, daß er die selbstherrscherliche Gewalt zum Wohl des Volkes befestigen und vor jeder Anfechtung bewahren wolle. Loris-Melikow erhielt seine Entlassung und wurde durch Ignatiew ersetzt, und der streng orthodoxe Pobjedonoszew sowie der Vertreter des Altrussentums, Katkow, waren die einflußreichen Ratgeber des Zaren, der in nur selten unterbrochener Zurückgezogenheit auf dem Schloß Gatschina lebte. Ignatiew berief eine Menge Kommissionen, um Reformen zu beraten, doch führten dieselben zu keinem praktischen Ergebnis; nur die Abschaffung der Kopfsteuer wurde beschlossen. Die Nihilisten vermochte er nicht zu unterdrücken und an neuen Mordthaten zu hindern. Da er 1882 wegen anfänglicher Begünstigung der Judenhetzen auch mit Katkow in Konflikt geriet, wurde er im Juni 1882 entlassen und der streng konservative Graf Tolstoi zum Minister des Innern ernannt. Unter ihm entdeckte man eine geheime Druckerei der Nihilisten im Marineministerium und verhaftete hochgestellte Beamte, auch einen Husarenmajor, als Mitglieder einer nihilistischen Verschwörung. Durch energische Maßregeln wurde die Umsturzpartei so geschwächt, daß 27. Mai 1883 die feierliche Kaiserkrönung mit großem Pomp in Moskau stattfinden konnte, ohne von einem Attentat gestört zu werden; von einer Verfassung enthielt das Krönungsmanifest nichts, sondern verkündete nur den teilweisen Erlaß der Kopfsteuer, eine sehr beschränkte Amnestie und eine mildere Behandlung der Sektierer. Alexander III. zeigte sich allen konstitutionellen Reformen abgeneigter denn je und schloß sich ganz der Ansicht an, daß nur die absolute Herrschergewalt des Zaren, verbunden mit der orthodoxen Kirche und gestützt auf die altrussischen Institutionen, das Reich erhalten könne. Die Nihilisten glaubte man durch Repressivmaßregeln im Zaum halten zu können; dennoch kamen wiederholt Mordthaten an Beamten oder Verrätern an der nihilistischen Sache vor, und ein Attentat auf den Kaiser selbst 13. März 1887 wurde nur durch einen Zufall verhindert. Alles Unheil für Rußland suchte man in dem Eindringen der westlichen Kultur, und demgemäß bekämpfte man die fremden Einflüsse. Die baltischen Provinzen wurden nach Möglichkeit russifiziert, die lutherische Kirche unterdrückt und die Ausbreitung des orthodoxen Glaubens mit List und Gewalt befördert. Die russischen Universitäten wurden einer strengen Überwachung unterworfen, die Zahl der Studenten beschränkt und bei der geringsten Störung der Ruhe an einer Universität dieselbe geschlossen.

Sowohl bei seinem Regierungsantritt als bei seiner Krönung hatte Alexander III. seine Friedensliebe betont. Allerdings machten die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Finanzen die Aufrechthaltung des Friedens höchst wünschenswert. Handel und Gewerbe hatten durch den Krieg schwer gelitten, die Landwirtschaft lag so danieder, daß die Besitzverhältnisse zwischen den Grundherren und den befreiten Bauern noch immer nicht überall hatten geregelt werden können. Die Schulden und die für ihre Verzinsung erforderlichen Ausgaben waren seit 1876 außerordentlich angewachsen, und das jährliche Budget konnte, wenn überhaupt, nur scheinbar ins Gleichgewicht gebracht werden, zumal die Zinsgarantie für die neuen Eisenbahnen beträchtliche Summen erforderte und das Heer und die Flotte mit erheblichen Kosten vermehrt und verbessert wurden. Der Kurs des Rubels sank immer mehr, und der Kredit Rußlands im Ausland war gering. Daher beschränkte sich Rußland auf die Ausdehnung seiner Grenze in Mittelasien, und die