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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Shakespeare

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Shakespeare (Gesamtbeurteilung).

fassen, entschieden mager und dürftig in der Ausführung, mit Ausnahme der berühmten Ensembleszene auf der Galeere; dagegen sind die um Kleopatra und das Liebespaar sich gruppierenden Szenen von unvergleichlicher Kunst und Wirkung, und gern unterschreibt man das Urteil, das G. Freytag in seiner "Technik des Dramas" gefällt hat, daß die Szenen im Monument der Kleopatra (die den Selbstmord derselben vorbereitenden und darstellenden Szenen) zu dem Großartigsten gehören, was S. geschaffen hat.

Es folgt "Troilus und Cressida" (1607), ein wunderliches Stück, das man wohl eine Parodie auf die Homerische Dichtung genannt hat. Auffallend in demselben ist die Parteinahme Shakespeares für die Trojaner, die mit Homer im Widerspruch steht, die indes aus dem Anschluß Shakespeares an die mittelalterliche Troilus-Dichtung erklärt werden kann. Ein seltsames Kunstwerk ist übrigens dies Stück auch, insofern es eine Komödie mit ganz tragischem Abschluß ist.

"Coriolan" schließt des Dichters Darstellungen aus dem römischen Leben ab (1607-1608). Es ist ein Gedicht von reicher sprachlicher Pracht, das in gewaltigen Zügen die "Selbstvernichtung einer aristokratischen Heldennatur durch Selbstüberhebung" darstellt. Ihm folgte in der Reihe der Schöpfungen Shakespeares das unpopulärste aller seiner Werke (vielleicht "Titus Andronicus" ausgenommen), "Timon von Athen", eine Art düsterer moralphilosophischer Studie voll dunkler Farben und harter Umrisse, aber auch voll hoher Gedanken, die das Stück den inhaltreichsten des Dichters zugesellen. Um 1609 fällt die Abfassung des bezaubernden Dramas "Der Sturm", das in gewissen Bestandteilen den damals am englischen Hof so beliebten und von Ben Jonson gepflegten sogen. "Masques" beizuzählen ist.

Das von Sam. Johnson wegen der "Thorheit der Erfindung, der Sinnlosigkeit der Entwickelung" gänzlich verurteilte, neuerdings dagegen, besonders von Schlegel und Gervinus, als den wundervollsten Dichtungen Shakespeares zugehörig gepriesene Drama "Cymbeline" (1609) verdient weder den Tadel des berühmten englischen Kritikers noch die Verherrlichung der deutschen Beurteiler in dem gedachten Umfang. Das Beste darin ist der reiche Gedankengehalt, welchen es bietet, während es in Bezug auf seinen eigentlich dramatischen Wert entschieden zu den schwächern Erzeugnissen der Muse Shakespeares zu zählen ist.

Ein ähnliches Gemisch des Ernsten mit dem Idyllisch-Heitern, des Sentimentalen mit dem Komischen tritt uns in dem "Wintermärchen" (1611) entgegen. Den Stoff entnahm der Dichter einem halb ritter-, halb schäferlichen Roman von Green ("Dorastus und Fawnia"); an poetischem Wert kommt das Drama, so köstliche Einzelheiten es bietet, dem "Sturm" nicht gleich. Als das letzte Drama Shakespeares bezeichnet die neueste Kritik "Heinrich VIII." (1613), das mit den übrigen verwandter Art nicht auf gleicher Höhe steht und organischen Zusammenhang der Handlung, Einheit der Charaktere, bedeutende Grundidee vermissen läßt. Vielleicht gehört die Ausführung nicht durchweg unserm Dichter an.

Über den Gesamtkunstwert der Schöpfungen Shakespeares (von einer Anzahl früher auf Rechnung des Dichters gesetzter, offenbar unechter Dramen sehen wir ab) sind zu verschiedenen Zeiten die Meinungen der Beurteiler sehr verschieden gewesen. Sogar während der Lebenszeit des Dichters und in unmittelbarer Nähe seines Schaffens herrschte durchaus nicht die fast unbedingte und einstimmige Bewunderung, welche einzelne englische und deutsche Kritiker der Neuzeit für ihn in Anspruch nahmen. Ben Jonsons Prolog zu seiner Komödie "Every man in his humour" (1598) kann hier als Ausgangspunkt einer Kritik angesehen werden, die auf realistischer Basis das Unwahrscheinliche in Shakespeares Stücken und die romantischen Elemente darin überhaupt zu tadeln unternimmt. Schwerlich hätte sonst S. bald nach seinem Tod bei seinen Landsleuten fast gänzlich in Vergessenheit geraten und eine genauere Bekanntschaft mit seinen dichterischen Schöpfungen in Deutschland und dem übrigen Europa sich erst nahezu 200 Jahre nach dem Tode des Dichters verbreiten können. In England, wo der finstere Geist des Puritanertums seit der Mitte des 17. Jahrh. allem heitern Lebensgenuß und so auch den Spielen der Kunst siegreich den Krieg gemacht hatte, ist erst seit etwa 1740 das Bewußtsein von der Existenz der Werke Shakespeares wieder lebendig, das Wissen von deren Größe und Bedeutung aber überhaupt erst allgemeiner geworden, nachdem Garricks Meisterschaft den Gestalten des Dichters auf der Bühne neues und in mancher Hinsicht früher ungeahntes Leben verschafft hatte. Dann wurde das bessere Verständnis für die Kunst Shakespeares auch bald nach Deutschland getragen, wo man, seitdem überhaupt eine Kenntnis von dem Dichter dahin gelangt war, in seinen Werken alles, nur keine Kundgebung wahrer Künstlerschaft gefunden hatte, bis Lessings scharf und tief blickender Geist dieselbe darin erkannte und nachwies. Im Gegensatz zur damals herrschenden französischen Tragödie weist Lessing auf S. hin und zeigt, wie ungleich tiefer und wahrer dieser ist als die Franzosen. Durch seinen Einfluß geschah es, daß man das Versmaß des französischen Theaters (den Alexandriner) aufgab und das Metrum der Engländer, den fünffüßigen Iambus, in das deutsche Drama einführte. Die Übersetzungen Eschenburgs und Wielands, die Bühnendarstellungen Schröders verbreiteten in der Folgezeit bei uns die Bekanntschaft mit den poetischen Gebilden des wundersamen britischen Genies, wenn auch in mangelhafter Gestalt. Goethes beredte Bewunderung lenkte die Augen der deutschen gebildeten Welt entschiedener auf die Schönheiten und den verborgenen Gehalt des den meisten noch rätselhaften Dichterphänomens. Später eroberte A. W. v. Schlegels Übersetzung die Meisterwerke des Briten unsrer Nation zum sprachlichen Eigentum, und seit dem Anfang dieses Jahrhunderts haben sich dann englische und deutsche Forscher um die Wette bemüht, die Schätze, die in Shakespeares Dichtungen verborgen liegen, zu heben, ihren Wert und Reichtum zu bestimmen sowie dem Leben und Schaffen des Dichters, soweit es irgend möglich, bis in die intimsten Beziehungen historisch und kritisch nachzuspüren. Der um die Mitte des 18. Jahrh. verbreitete Wahn, als seien Shakespeares Werke nichts weiter als kolossale Erzeugnisse eines regellos wilden Dichtergenies, ungeheuerliche Ausgeburten einer unendlich reichen, aber ungebändigten Phantasie (eine Vorstellung, die, wie wir oben sahen, bis auf Milton zurückgeführt werden kann), hat vor den Belehrungen Lessings, Goethes, Schlegels und einzelner Kritiker Englands längst zu nichte werden müssen. Einen verwirrenden und verdunkelnden Einfluß aber übte die überschwengliche Kritik L. Tiecks und der Romantiker, die auf die nüchternen englischen Forscher vornehm herabsahen und gleichsam im Alleinbesitz des Verständnisses des Dichters zu sein sich den Anschein gaben. Später kam die in Deutschland am geistvollsten durch Gervinus vertretene Auffassung, nach welcher