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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Trunksucht

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Trunksucht (gesetzliche Maßregeln, Trinkerasyle).

Krämpfe, Schwäche und Lähmung der Glieder, Störungen der Intelligenz bis zum vollen Wahn- und Blödsinn und zur allgemeinen Paralyse. Auch das Auge, das Ohr und die Haut werden in ihren Funktionen durch den anhaltenden Mißbrauch der spirituösen Getränke beeinträchtigt. Das Blut der Trinker wird reicher an Wasser und ärmer an Faserstoff und verändert sich in noch unbekannter Weise in seiner Beschaffenheit; in den frühen Stadien des Alkoholismus findet eine exzessive Fettbildung statt. In allen Organen und Geweben tritt eine abnorme Anhäufung von Fett auf, die selbst im Blut sich kenntlich macht. Es ist erwiesen, daß Trinker viel häufiger erkranken als Nichttrinker, nicht nur an den von der toxischen Einwirkung des chronischen Alkoholgenusses direkt verursachten krankhaften Veränderungen der einzelnen Organe, sondern daß sie wegen ihrer gesunkenen Widerstandskraft auch mehr den allgemeinen Krankheitseinflüssen ausgesetzt sind. Die Trinker verfallen auch allen Krankheiten in einem viel intensivern Grad als Nichttrinker; nicht nur, daß bei allen entzündlichen Krankheiten, bei allen operativen Eingriffen und Wundverletzungen jene den Säufern eigentümliche Erkrankung des Gehirns, das Delirium tremens, hinzutritt und den Verlauf der Krankheit sehr erheblich beeinflußt, sondern wegen der schlechten Blutbeschaffenheit und der geschwächten Lebenskraft nehmen die auftretenden, sonst relativ ungefährlichen Krankheiten einen bösartigen Charakter an. Die T. steigert die Sterblichkeit, indem viele Trinker nach Art einer akuten Vergiftung oder nach einem Alkoholexzeß sterben; viel mehr aber gehen an den geschilderten Folgen der T. und an Verunglückungen in der Trunkenheit zu Grunde. Eine beträchtliche Anzahl von Selbstmorden geschehen in und aus T. Die Lebensdauer der Trinker ist in dem Maß verkürzt, daß, während ein normal Lebender im Alter von 20 Jahren eine Lebensdauer von 44,2 Jahren zu erwarten hat, ein Trinker in gleichem Alter nur noch auf 15,6 Jahre rechnen darf. Die in der T. erzeugte Nachkommenschaft ist schwächlich und kränklich und disponiert besonders zu Idiotie, Konvulsionen, Epilepsie etc. In Gegenden, wo T. weit verbreitet ist, zeigt sich die Militärbrauchbarkeit der Jugend herabgemindert. T. erzeugt Müßiggang und Liederlichkeit und wird dadurch eine der wirksamsten Ursachen der Einzel- und Massenarmut, zugleich aber auch der Vermehrung der Verbrecher und der Verbrechen. Mehr als Armut und Unwissenheit ruft T. die Neigung zum Verbrechen hervor und beschönigt sie.

In dem Kampf gegen die T. sind nur solche Mittel anzuwenden, die, den Anschauungen des Volkes angepaßt, auf Anerkennung und Mitthätigkeit der Gesellschaft rechnen dürfen. Auch hier sollte man nur das zu erreichen suchen, was zu erreichen möglich ist. Die absolute Unterdrückung des Genusses alkoholischer Getränke, die von vielen Seiten zum Prinzip erhoben ist, wird nur in sehr beschränktem Maß zu erreichen sein und nur in einzelnen Ländern ein erstrebenswertes Ziel bleiben. Der Kampf gegen die T. ist mit großer Energie von Vereinigungen selbstloser Männer unter verschiedenen Formen und nicht ohne Verirrungen geführt worden (s. Mäßigkeitsvereine). Die gesetzlichen Maßregeln gegen die T. haben nicht immer den beabsichtigten Erfolg gehabt, weil sie aus fiskalischen Gründen nicht immer streng durchgeführt werden, weil sie leicht zu umgehen sind, und weil es fast unmöglich ist, eingewurzelte Gewohnheiten und Neigungen aus dem Volk durch das Gesetz mit einemmal zu vertilgen. So hat das Gesetz, welches den Verkauf aller spirituösen Getränke bei hohen Strafen absolut verbietet und 1851 im Staat Maine (Liquor Maine law) und später auch in mehreren andern Staaten von Nordamerika eingeführt wurde, in keiner Weise bewirkt, was seiner Rigorosität und den Anstrengungen, es durchzuführen, entspricht. Als wirksame Angriffspunkte der Gesetzgebung sind die Verminderung der Zahl der kleinen Brennereien, namentlich der Hausbrennereien, anzusehen, ferner die Einschränkung des Kleinhandels mit Spirituosen, Verminderung der großen Zahl der Schankstellen durch strenge Prüfung der Bedürfnisfrage und der Moralität des Schenkwirts. (England: Gesetze von 1828 und 1872, nach denen der Betrieb eines Schankgewerbes nur auf Grund einer alljährlich zu erneuernden Konzession gestattet ist. Gesetze in Norwegen 1871, in Schweden 1857 und 1869, nach denen in jeder Gemeinde die Zahl der Schenken durch die Behörde unter Mitwirkung der Gemeindeorgane festgesetzt und die Schenken auf bestimmte Zeit an den Meistbietenden verpachtet werden; niederländisches Gesetz von 1881, in Kraft getreten 1885; Gesetz für Galizien und die Bukowina von 1877, weitergehende Bestimmungen enthält ein für ganz Österreich geplantes "Gesetz zur Hintanhaltung der Trunkenheit". Entsprechende Bestimmungen für Deutschland enthalten die Gewerbeordnung von 1869, die Ergänzungsgesetze vom 23. Juni 1879 und vom 7. Mai 1883, dann das Reichsstrafgesetz, § 361. Weiter als letzteres Gesetz gehen die Polizeistrafgesetze einzelner Bundesstaaten sowie Gesetze in Schweden [1864], England [1872], Frankreich [1873] etc., welche diejenigen mit Strafe bedrohen, welche in Wirtschaften, auf der Straße oder an andern öffentlichen Plätzen im Zustand offenbarer oder Ärgernis erregender Trunkenheit gefunden werden.) Weniger zuverlässig ist die Branntweinsteuer, weil eine zu hohe Besteuerung die Defraudation geradezu provoziert, während eine zu geringe Steuer den Alkoholkonsum allerdings ganz direkt begünstigt.

Nachahmenswert ist die Maßnahme, die in Schweden, zuerst in Gotenburg (gotenburgisches System), ergriffen ist, um die Zahl der Schankstellen zu vermindern und die Beförderung des Alkoholkonsums durch die Habgier der Schenkwirte zu verhüten. Hier hat sich eine Aktiengesellschaft gebildet, um die Schankstellen (s. oben) anzukaufen und ohne jeden Nutzen für sich den Handel im Sinn der Mäßigkeit zu betreiben. In einzelnen Staaten von Nordamerika wird der Schenkwirt gesetzlich für alle Folgen der Trunkenheit, zu welcher er verholfen, haftbar, so daß er bei Verunglückungen eines Trinkers an dessen Familie Schadenersatz leisten muß und auch mit bestraft werden kann, wenn ein Trinker, dem er die Getränke verabfolgt, ein Verbrechen begeht. Von größter Bedeutung sind die Trinkerasyle zur Heilung Trunksüchtiger. In diesen Anstalten, in welchen nicht die unbeugsame Strenge eines Gefängnisses, aber auch nicht die nachsichtige Zucht einer Krankenanstalt herrschen darf, sollen alle Personen zwangsweise verwahrt werden, welche durch T. die Herrschaft über sich verloren haben, die Pflichten gegen sich und ihre Angehörigen anhaltend vernachlässigen, sich und andern eine Gefahr werden können. In diesen Asylen sollen ferner diejenigen Personen untergebracht werden, welche in der Trunkenheit eine gesetzwidrige Handlung begangen haben und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt sind. Das erste Trinkerasyl wurde 1857 in Boston errichtet, bald waren alle Staaten der Union diesem Beispiel gefolgt, und noch