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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Vergilius der Zauberer

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Vergilius - Vergilius der Zauberer.

risches Genie, höchstens ein Talent, welches zu dem, was es erreicht hat, nur durch angestrengte Arbeit gelangt ist. Daher sind seine Arbeiten mehr durch Sorgfalt, Korrektheit und Eleganz in Komposition, Sprache und Versbau als durch schöpferische Kraft, Frische, Anschaulichkeit und Lebendigkeit ausgezeichnet. Seine Hauptwerke sind: 1) die »Eclogae«, zehn bukolische Gedichte, Nachahmungen der Idylle Theokrits, aber ohne die Natürlichkeit derselben, da die Schilderungen des Land- und Hirtenlebens vollständig durchsetzt sind mit Beziehungen auf Zeitverhältnisse, eigne Schicksale und angesehene Personen, denen sich der Dichter durch diese Huldigung empfehlen oder dankbar beweisen wollte (Ausgabe mit Übersetzung und Erklärung von J. H. Voß, Altona 1797; 2. Aufl. 1830, 2 Bde.; Glaser, Halle 1876); 2) die »Georgica«, ein didaktisches Gedicht in vier Büchern, den Ackerbau, die Baum-, Vieh- und Bienenzucht behandelnd, durch Sachkenntnis, Reinheit und Wohllaut der Sprache und des Versbaues das vollendetste Erzeugnis der römischen Kunstpoesie (hrsg. von J. H. Voß, mit deutscher Übersetzung, Altona 1800, 2 Bde.; von Glaser, Halle 1872); 3) die »Aeneïs«, ein Epos in 12 Büchern, nach des Dichters Tod von seinen Freunden Varius und Tucca, denen er es unter der Bedingung, nichts davon zu veröffentlichen, vermacht hatte, auf Augustus' Befehl redigiert und herausgegeben, an künstlerischer Vollendung und Originalität weit hinter den »Georgica« zurückstehend, aber von den Römern als Nationalepos betrachtet und den Homerischen Dichtungen gleichgestellt (hrsg. von Thiel, Berl. 1834-38, 2 Bde.; Peerlkamp, Leid. 1843, 2 Bde.; Goßrau, 2. Aufl., Quedlinb. 1875). Außerdem werden ihm die kleinern Gedichte: »Culex«, »Ciris«, »Dirae«, »Copa«, »Moretum« und die »Catalecta«, eine Sammlung in 14 Gedichten in iambischem und elegischem Versmaß, zugeschrieben, von denen jedenfalls aber nur der kleinste Teil dem V. zugehört (außer in den Ausgaben des V. hrsg. von Bährens, »Poetae latini minores«, Bd. 2, Leipz. 1880). Trotz manches schon im Altertum erhobenen Tadels ist V. zu allen Zeiten der gelesenste, bewundertste und populärste Dichter seines Volkes geblieben, und kein andrer Schriftsteller hat einen solchen Einfluß auf die weitere Entwickelung der römischen Litteratur und Sprache gehabt. Wie bei den Griechen Homers Gedichte, so wurden seine Werke, besonders die »Aeneis«, bis in die spätesten Zeiten zum Schulunterricht und als Grundlage der Schulgrammatik benutzt, von den Dichtern nachgeahmt, später sogar zur Herstellung neuer Gedichte verschiedensten Inhalts aus einzelnen Versen und Versteilen (sogen. Centonen, s. Cento) verwertet und von den berühmtesten Gelehrten zum Gegenstand sprachlicher u. sachlicher Studien gemacht. Reste dieser gelehrten Thätigkeit haben sich in verschiedenen Scholiensammlungen erhalten, namentlich in dem reichhaltigen Kommentar des Servius (s. d.). Wie großes Ansehen V. im Mittelalter genoß, wo ihn der Volksglaube zu einem Zauberer machte (s. den folgenden Artikel), beweist auch, daß ihn Dante in seiner »Göttlichen Komödie« zum Führer in der Unterwelt nimmt. Auch Tasso und Camoens schließen sich an V. an, und bei den Franzosen war der Begriff des Epos der des Vergilischen. Von den Gesamtausgaben sind außer der Editio princeps (Rom 1469) hervorzuheben: die von Heyne (Leipz. 1767-1775, 4 Bde.; 3. Aufl. 1798-1800, 5 Bde.; 4. Aufl. von Wagner, das. 1830-41, 5 Bde.), Forbiger (4. Aufl., das. 1872-75, 3 Bde.) und Ribbeck (das. 1859 bis 1868, 5 Bde., kritische Hauptausgabe); von den Prachtausgaben: die mit italienischer, spanischer, französischer, englischer und deutscher Übersetzung (Lond. 1826) und der Prachtabdruck der Heyne-Wagnerschen Ausgabe mit 200 Kupfern und Vignetten sowie die »Fünfzig Bilder zur Äneïde« mit französischer und deutscher Erklärung von Frommel (Karlsr. 1830); von den Hand- und Schulausgaben: die von Jahn (4. Aufl., Leipz. 1850), Wagner (3. Aufl., das. 1861), Ladewig-Schaper (Berl., 3 Bde., zum Teil schon 10. Aufl.), Haupt (neue Ausg., Leipz. 1873, seitdem einzelnes schon in 9. Aufl.), Kappes (das., zum Teil schon 4. Aufl.). Eine klassische Übersetzung sämtlicher Gedichte lieferte J. H. Voß (2. Aufl., Braunschw. 1821, 3 Bde.); daneben sind die von Binder (Stuttg. 1869 ff., 3 Bde.) und von Osiander und Hertzberg (das. 1869) hervorzuheben. Vgl. Lersch, Antiquitates Virgilianae (Bonn 1843); Tissot, Études sur Virgile (2. Aufl., Par. 1841, 2 Bde.); Sainte-Beuve, Étude sur Virgile (2. Aufl., das. 1870); Wedewer, Homer, Virgil, Tasso (Münst. 1843); Sellar, The Roman poets of the Augustan age. Virgil (Lond. 1877); Plüß, Vergil und die epische Kunst (Leipz. 1884).

Vergilius der Zauberer, die nach mittelalterlicher Auffassungsweise sagenhaft ausgeschmückte Gestalt des römischen Dichters Vergilius. Einige rätselhafte Stellen in seinen Gedichten führten schon früh auf die Meinung, daß darin eine ganz besondere Weisheit und Geheimlehre verborgen sei; christliche Schriftsteller des 3. und 4. Jahrh., wie Lactantius, Augustinus u. a., stellten ihn als einen Verkünder des Christentums dar, der sich von dem Polytheismus ab- und dem Monotheismus zugewendet habe, sie deuteten namentlich den Anfang seines vierten, im Jahr 40 v. Chr. gedichteten und an den Konsul Asinius Pollio und dessen neugebornes Söhnlein gerichteten Idylls als eine messianische Weissagung, und diese Deutung setzte sich so fest, daß V. mit der Sibylle neben den alttestamentlichen messianischen Propheten in die katholische Liturgie Eingang fand. Kirchenbilder stellen ihn neben der Sibylle von Tibur dar, die dem Kaiser Augustus das Christuskind in den Wolken zeigt, und Dante durfte sich somit in der »Göttlichen Komödie« dem heidnischen Führer bis vor die Thore des Himmels anvertrauen. Damit hängen auch die sogen. Sortes Virgilianae zusammen, eine Schicksalsbefragung, bei der man die ersten sich darbietenden Verse der aufs Geratewohl aufgeschlagenen »Äneide« als Orakel annahm. Es konnte nicht fehlen, daß bald allerlei Sagen an den so hoch verehrten Namen sich knüpften, die sich vorzugsweise an die Orte seiner Geburt, seines Hauptaufenthalts und seines Todes, an Mantua, Rom und Neapel, anlehnten. Im 12. Jahrh. scheint zuerst mit Benutzung orientalischer Sagen, die in den Kreuzzügen nach Europa gekommen waren, und in analoger Weise, wie dies in jener Zeit mit andern weisen Männern (Kaiser Leo dem Philosophen, Papst Silvester, Albertus Magnus, Roger Bacon u. a.) geschah, die Umwandlung in einen Zauberer vollzogen zu sein. Die frühsten Spuren davon finden sich in dem »Policraticus« des Johann von Salisbury (1159), worauf Gervasius von Tilbury in seinem um 1211 geschriebenen Buch »Otia imperialia« schon eine größere Zahl von Sagen mitteilen konnte, die er zum Teil aus dem Munde des neapolitanischen Volkes gesammelt hatte. Fortbildung und weitere Beiträge zu dem Sagenkreis lieferten dann namentlich die Chroniken von Neapel und Mantua, wobei verschiedene früher dem Kaiser Leo zugeschriebene Künste jetzt dem Vergil beigelegt wurden, z. B. die vom Zauberspiegel, in welchem alles zu sehen war,