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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Wilhelm

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Wilhelm (deutscher Kaiser).

rischen Operationen auf verschiedenen Kriegsschauplätzen und die politischen Verhandlungen über die Herstellung des Deutschen Reichs. Durch die Kaiserproklamation, welche 18. Jan. 1871 im Versailler Schlosse stattfand, nahm W. für sich und seine Nachfolger an der Krone Preußen den Titel eines »deutschen Kaisers« an und versprach, »allzeit Mehrer des Deutschen Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung«. Am 16. Juni 1871 hielt er seinen glänzenden Einzug in Berlin. Rastlos widmete er sich wieder den Regierungsgeschäften, sowohl der Vollendung der militärischen Organisation des Deutschen Reichs als der innern Reform des preußischen Staatswesens. Wie immer pflichtgetreu und streng gesetzlich, hielt er in dem sogen. Kulturkampf gegenüber allen ultramontanen Schmeicheleien und Drohungen entschlossen zu seinen Ministern und wies die Anmaßung des Papstes in seinem berühmten Schreiben vom 3. Sept. 1873 ebenso entschieden wie würdig zurück. Den äußern Frieden bemühte er sich durch Versöhnung der Gegensätze und Feindschaften der Nachbarmächte zu sichern. Zu diesem Zweck brachte er im September 1872 den Dreikaiserbund zwischen Deutschland, Rußland und Österreich zu stande, welcher die beiden letztern Mächte einander näherte und die Aufrechterhaltung des Friedens sich zur Aufgabe machte. Demselben Zweck sollten die Besuche dienen, welchen sich der Kaiser 1873 in Petersburg und Wien, 1875 in Mailand unterzog, wie er es sich denn stets angelegen sein ließ, durch den Eindruck persönlichen Verkehrs auf Besuchen in neuerworbenen Landesteilen beschwichtigend und versöhnend für die Einigung der deutschen Nation zu wirken. Durch die Erfolge dieser unermüdlichen, aufopfernden Thätigkeit für das Gemeinwohl erlangte W. eine außerordentliche Beliebtheit, die sich 1. Jan. 1877 bei seinem 70jährigen Militärjubiläum und 22. März 1877 an seinem 80. Geburtstag in großartigen Huldigungen aller Stände des deutschen Volkes bewährte. Selten war es einem Fürsten zu teil geworden, wie ihm, noch in hohem Alter, am Spätabend seines Lebens, seinem Haus und Staat solche Ehren zu erringen und nicht bloß der älteste, sondern auch der angesehenste und mächtigste Monarch Europas zu sein. Um so größeres Erstaunen und Entsetzen mußte es erregen, als ein Leipziger Klempnergeselle, Max Hödel, durch sozialdemokratische Agitationen verwirrt, 11. Mai 1878, als der Kaiser mit der Großherzogin von Baden in offenem Wagen durch die Linden fuhr, mit einem Revolver mehrere, glücklicherweise erfolglose, Schüsse auf ihn abschoß. Noch war die Aufregung hierüber nicht beschwichtigt, als drei Wochen später, 2. Juni (einem Sonntag), als der Kaiser allein nach dem Tiergarten fuhr, fast an derselben Stelle, aus einem Fenster des Hauses Nr. 18 Unter den Linden, zwei Schüsse auf ihn abgefeuert wurden, die ihn erheblich (mit 30 Schrotkörnern in Kopf und Arme) verwundeten. Der Thäter, Karl Nobiling, wurde, durch einen Selbstmordversuch schwer verletzt, ergriffen. Obwohl der Kaiser so krank wurde, daß er 4. Juni den Kronprinzen zum Stellvertreter ernennen mußte, so bewahrte er dennoch unerschütterliche Seelenruhe und Gleichmut. Unter sorgfältigster Pflege der Ärzte erholte er sich allmählich von der schweren Verwundung und kehrte nach längerm Aufenthalt in Baden und Wiesbaden 5. Dez. nach Berlin zurück, wo er die Regierung wieder übernahm. Die Huldigungen, die ihm während und nach seiner Genesung dargebracht wurden, waren zahllos und großartig. Im Juli ward im ganzen Reich die Wilhelms-Spende aus kleinen Gaben gesammelt; sie ergab 1,800,000 Mk. von 12 Mill. Gebern. Unerschüttert in seiner Liebe und in seinen Vertrauen zum Volk erließ er 17. Nov. 1881 und 14. April 1883 die Botschaften an den Reichstag, in denen er die wichtigen sozialen Gesetze für das Wohl der Arbeiter ankündigte. Auch knüpfte er Verhandlungen mit dem neuen friedliebenden Papst Leo XIII. zur Beendigung des Kulturkampfes an. Ungeachtet seiner tief gewurzelten Sympathien für Rußland gab er 1879 seine Zustimmung zum Bündnis mit Österreich. Unermüdlich war er auch für das Heer thätig und gönnte sich nur im Sommer in Ems und Gastein einige Erholung. Diese treue, selbstlose Fürsorge für das Wohl Deutschlands, seine schlichte und doch imponierende, würdevolle Erscheinung verschafften ihm eine Popularität in Deutschland und ein Ansehen in der Welt, wie nie zuvor einem deutschen Herrscher; dies zeigte sich bei seiner goldenen Hochzeit, bei seinem 80jährigen Militärjubiläum (1. Jan. 1887), bei seinem 25jährigen Regierungsjubiläum (2. Jan.) und bei seinem 90. Geburtstag. Schmerzlich getroffen durch die Krankheit seines Sohns und den Tod seines Enkels (des Prinzen Ludwig von Baden), starb W. nach kurzer Krankheit 9. März 1888 in Berlin und ward 16. März im Mausoleum zu Charlottenburg beigesetzt. Zahlreiche, teilweise großartige Denkmäler wurden ihm errichtet; das 2. westpreußische Grenadierregiment Nr. 7 wurde Grenadierregiment König W. I. benannt.

W. war von großer, imposanter Gestalt und regelmäßigen, angenehmen und freundlichen Gesichtszügen. Geregelte Thätigkeit und einfache, mäßige Lebensweise bewahrten ihm bis in sein hohes Alter eine seltene körperliche Rüstigkeit und geistige Frische. Allgemein bewundert wurden seine Liebenswürdigkeit im persönlichen Verkehr und seine unermüdliche Ausdauer in der Erfüllung seiner Pflichten als Monarch sowohl in Staatsgeschäften wie bei den offiziellen Festen. »Einfach, bieder und verständig«, so hatte seine Mutter ihn 1810 bezeichnet, und so entwickelte er sich harmonisch. Hervorragende, glänzende Geistesgaben zeichneten ihn nicht aus; hauptsächlich nur für militärische und politische Dinge zeigte er Vorliebe, eingehendes Verständnis und selbständiges Urteil, weniger für Künste und Wissenschaften. Bedeutender waren seine Charaktereigenschaften: seine Wahrheitsliebe, Treue, Dankbarkeit, sein sittlicher Mut, seine Standhaftigkeit in gefährlichen, seine Mäßigung in glücklichen Lagen. Namentlich anzuerkennen waren die Bescheidenheit, mit der er das Verdienst der von ihm selbst ausgewählten Gehilfen, wie besonders Bismarcks, Moltkes und Roons, nicht nur selbst anerkannte, sondern auch die mitunter ihn selbst in Schatten stellende Glorifikation derselben ohne Eifersucht ertrug, sowie besonders das strenge Pflichtgefühl, welches ihm das Wohl und die Größe des ihm anvertrauten Staats und Volkes als höchste Richtschnur seines Denkens und Handelns gelten, welches ihn nicht bloß im einzelnen Fall dem Gesetz sich unterwerfen, sondern auch altgewohnte Ansichten und Lieblingsideen seiner Pflicht zuliebe unterdrücken ließ. Kaiser W. war ein glänzendes Beispiel dafür, daß im Staatsleben ein Charakter weit mehr wert ist als ein Talent. Vgl. L. Schneider, König W., militärische Lebensbeschreibung (Berl. 1869); Fortsetzung bis 1871, das. 1875); W. Müller, Kaiser W. (das. 1888); Ferd. Schmidt, Kaiser W.