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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Englische Litteratur (seit 1884: Roman)

»Stafford«, »Colombe's birthday«, »In a gallery« und »The blot on the Scutcheon« auf die Bühne gebracht, wie die Shelley-Gesellschaft das vorher nie aufgeführte, auch zur Aufführung vor einem gemischten Publikum nicht eben geeignete, grausig-großartige Stück ihres Lieblingsdichters: »The cenci«. Robert Buchanan und William Willis erzielten mit Dramatisierung von Romanen des vorigen Jahrhunderts Erfolge. Weniger als Fielding und Oliver Goldsmith haben zwei Bearbeitungen von Nathaniel Hawthornes »Scarlet letter« (die eine von Eduard Aveling) das Publikum angezogen. Ziemlich häufig sind die Bearbeitungen von neuerschienenen Romanen lebender englischer Schriftsteller, und diese haben den Übertragungen aus dem Französischen einen Teil des von ihnen früher behaupteten Platzes abgewonnen. Dahin gehören unter andern die Dramatisierungen von Büchern, die Haggard, Stevenson, Fergus Hume vom Stapel laufen ließen. Den bedeutendsten Erfolg hatte Frau Frances Burnett mit der Dramatisierung ihrer trefflichen Erzählung »Little Lord Fauntleroy«. Es sei hier auch erwähnt, daß mehrere Dramen von Ibsen auf die Bühne gebracht wurden, sicherlich Aufsehen erregten, aber keineswegs einstimmigen Beifall fanden. Unter der leichtern Ware, die vom Ausland eingeführt wurde, ist Mosers »Bibliothekar« zu erwähnen, der nach einigen Änderungen als »The private secretary« schließlich zu einem Lieblingsstück des Publikums wurde. Für das Bedürfnis nach Spektakelstücken mit viel Mord, Liebe, Fälschung, Humor und großen szenischen Effekten wird unter anderm von Sims (»The harbour lights«, »Romany Rye« 2c.) gesorgt, neben welchem auch Pinero und der kürzlich verstorbene Albern zu nennen wären. Auf dem Gebiet des Singspiels reichen sich, wie früher, Gilbert und Sullivan in anmutigen und schalkhaften Stücken die Hände. Dahin gehören in den letzten Jahren: »Princess Ida«, »Ruddigore«, »The yeoman of the guard«, vor allen aber der auch in Deutschland mit Beifall aufgenommene »Mikado«. Der Schauspieler Irving und seine Gefährtin Ellen Terry beherrschen noch immer die Bühne. Trotz des berechtigten Vorwurfs, durch die Pracht der Bühne das litterarische Interesse in den Hintergrund gedrängt zu haben, bleibt es immerhin sicher, daß Irving die Shakespeareschen Dramen wesentlich im täglichen Leben der Nation festhält, wie dies in den 20 Jahren vor ihm niemand gethan.Und so sei ihm auch ein Verdienst darin zugeschrieben, daß er Goethes »Faust« (in der Bearbeitung von W. G. Willis) dem englischen Publikum vorgeführt hat. Diese Bearbeitung erweist sich in der That doch treuer, als man erwarten mochte; sicher haben durch die Hunderte von Aufführungen Tausende einen großen Eindruck von Goethe erhalten, der ihnen vorher kaum ein Name war.

Roman.

Überaus reichlich stießt auch jetzt noch der Dorn des englischen Erzählungstalents in der Prosadichtung, doch müssen wir uns begnügen, nur das Hervorragende zu erwähnen. Vorausgeschickt sei, daß der kontinentale Sturm widerstrebender Winde des Realismus, Naturalismus, Idealismus die e. L. nur wenig berührt hat. Unbeachtet blieb er indessen nicht. Seine Wellen haben auch Englands Ufer erreicht, aber sie haben keine wesentliche Störung hervorgebracht. Ein gesunder Realismus ist hier längst aus dem Leben in die Litteratur übergetreten, da beide so eng sich in England berühren. Eben daß, ohne jedes Schul-Schibboleth, jener Wirklichkeitssinn

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bereits vorhanden, hat England vor dem Gefallen an dem Schmutz, dem Anstößigen, der Verfaulung bewahrt, welche sich an Zolas Namen anknüpfen. Die rege Teilnahme der Frauen als Schöpferinnen und Leserinnen hat zu diesem Grundzug beigetragen, während doch die große Vielseitigkeit des thatkräftigen Lebens des Engländers eine schale Prüderie nicht zur Herrschaft kommen ließ. Bezeichnend ist, daß die Photographie der obern Klassen und der höhern Mittelklasse, deren sich Anthony Trollope nach Thackerays Vorgang so eifrig befliß, noch eifriger als sein humorvoller Meister, etwas in den Schatten getreten ist, während Walter * Besant die humoristischen Bestrebungen des Charles Dickens weiter vertritt, und daß zugleich eine helle Freude am Abenteuerlichen nicht nur, sondern eine starke Hinneigung zum Mystisch-Schauerlichen an den Tag getreten ist, in welcher Hugh Conway auf niedrigerm Gebiet sich bemerkbar gemacht, Stevenson und Haggard auf viel höherm Niveau sich ausgezeichnet haben. Daneben steht noch der philosophische Roman mit Pater (»Marius the Epicurean«) und die Romane der mehr oder weniger radikalen Freidenker, welche dem althergebrachten religiösen Anstrich des Romanlebens gewaltig zusetzen, der historische Roman und der Seeroman. Zur Seite läuft die alte Liebes- und Familiengeschichte, fröhlich oder traurig, einher und ist nicht in allen ihren Erzeugnissen unbedeutend. Es gibt treffliche Sittengemälde aus dem In- und Ausland, die tägliche Berührung mit dem Orient und den Kolonien liefert reichlich Stoffe und verhindert die Versauerung und Verdumpfung des Philistertums, zu dem es dem Engländer sonst an Anlage nicht fehlt.

In erster Reihe haben sich die alten Lieblinge bewährt: Thomas Hardy mit »Wessex tales« und »The Woodlanders«; William Black mit »Sabina Zembra«, »The strange adventures of a house boat«, einem Gegenstück zu seinem längst erschienenen »Strange adventures of a phaeton«, und in jüngster Zeit mit »In far Lochaber«; James Payn mit »A prince of the blood«, »By Proxy«, »The talk of the town«; Frau Frances H. Burnett mit dem sehr gelungenen »Little Lord Fauntleroy«, »The pretty sister of José« und »The fortunes of Philippa Fairfax«; George Meredith mit »Diana of the cross ways«, an dem seine Verehrer die Feinheit der psychologischen Darstellung rühmen, der aber doch nicht die gebildete Mehrheit zu gewinnen verstanden hat. Um so mehr ist dies Francis Marion * Crawford gelungen, der sich rasch einen Platz unter den Klassikern des Romans erstritten hat. Ebenso ist Walter * Besant ans einer sehr geachteten Stellung in der zweiten Reihe zu unbestrittenem Rang in der ersten vorgeschritten. In »Herr Paulus, his greatness and fall« behandelt er in origineller Weise den Spiritismus, in »The world went very well then« ein Stück altfränkischen Lebens, in »Katharina Regina« die Leiden u. Freuden der Erzieherin. Seinen größten Erfolg hatte er aber mit »All sorts and conditions of men« schon deshalb, weil der Roman zur Gründung des People's Palace in London geführt hat. Von jüngern traten auch Stevenson und Rider Haggard in die erste Reihe. R. L. Stevenson brachte in den Bukaniergeschichten: »The treasure island« ein Meisterwerk in der Art von Defoes »Robinson Crusoe«, wie auch »The black arrow«, gefiel sich aber dann in dem mysteriösen, alle Voraussetzungen des wirklichen Lebens verleugnenden »Dr. Jekyll and Mr. Hyde« und »New Arabian nights« im Gruseli-