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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Französische Litteratur (seit 1884: Kritik)

Georges Peyrebrune u. a. anerkennenswerte Beiträge liefern. Nicht ganz übergangen darf hier eine Dichterschule werden, die in dem berüchtigten Prozeß Chambige von sich reden machte, die Schule der Décadents, wie sie sich selbst nennt, weil ihre Angehörigen sich, ehe sie gelebt, im Verfall begriffen fühlen und danach dichten und trachten. Die Verse dieser jungen Greise sind größtenteils ganz unverständlich, ihre Benennungen für die einfachsten Dinge so weit hergeholt, daß der gewöhnliche Leser wie vor Rätseln steht, vor einer Gedanken- und Gefühlswelt, in der sich nur der Eingeweihte auszufinden vermag, während der Normalmensch glauben kann, Tollhäusler oder Frevler führten das Wort. Der Messias der Schule heißt Stéphane Mallarmé und ist Lehrer des Englischen an einer öffentlichen Anstalt; seine meist genannten Apostel sind Gustave Kahn, René Ghill, Stuart Merill. Mehrere Zeitschriften, welche die Décadents gegründet hatten, sind jetzt in eine verschmolzen, die "Revue indépendante", in der die wunderlichen Heiligen einander als Propheten und verkannten Genies Weihrauch streuen.

Kritik. Memoiren. Briefwechsel.

Jules *Lemaître und Anatole France, die oben als Novellenschreiber Genannten, schwangen sich in den letzten Jahren zu der Stellung auf, welche Sainte-Beuve einst als Kritiker hier einnahm, Lemaître in der "Theaterwoche" des "Journal des Débats", A. France im "Temps", wo er jeden Sonnabend eine bemerkenswerte Abhandlung über die neuesten schöngeistigen Erscheinungen oder vielmehr anläßlich derselben schreibt. Er bespricht nämlich selten ein Buch, sondern empfängt von demselben Anregung, um als Gelehrter oder Philosoph eignen Ideen nachzugehen. In der Vorrede, die er zu seinen gesammelten Artikeln "La vie littéraire" schrieb, führt er zutreffend die Äußerung des Direktors des "Temps", Senator Hébrard, an, er sei ein schalkhafter Benediktiner; nicht selten ist er aber auch ein Melancholiker, dem es Vergnügen gewährt, seinen Lesern Kunst und Leben grau in grau zu malen. Farbenreicher und genußfreudiger ist Lemaître, der allem Herkömmlichen, allen Gemeinplätzen den Krieg erklärt hat und auch gegen die scheinbar festesten Positionen Sturm läuft, wie seine Polemik gegen Victor Hugo zeigte. Durch diese und den Vernichtungskampf gegen den Romanschriftsteller Georges Ohnet begründete er seinen Ruf zum mindesten ebenso sicher wie durch die bemerkenswerten Artikel über zeitgenössische Schriftsteller, die bisher in drei Bänden "Nos contemporains" erschienen. Seine Theaterkritik ("Impressions de théâtre") ist darauf eingerichtet, das Gegenstück derjenigen Francisque Sarceys (im "Temps") zu sein, welche praktisch, solid, nüchtern, verständig im Biedermannston vorgeht, während Lemaître das Leichte, Anmutige, Beschwingte, Phantastische mit Vorliebe in blendender Sprache feiert. J. J. *Weiß, der durch eine Reihe von Jahren sein Vorgänger im Unterstübchen der "Débats" war, gibt eine Sammlung seiner frühern Artikel: "Le théâtre et les mœurs", mit einer geistvollen, gedankenreichen Vorrede heraus, in der er zur Erklärung seiner Leidenschaft für das Theater ein Stück Jugendgeschichte erzählt. Die Gestalten, an denen J. J. Weiß die Wechselwirkung des Theaters und der Sitten nachweist, sind Scribe, die beiden A. Dumas, Victor Hugo, Pailleron, Sardou, Oct. Feuillet. Zwei Kapitel sind dem Realismus und Naturalismus ("Dumas gegen Zola", "Zola und Augier") gewidmet, welche den Gegenstand faßlicher und überzeugender, wenn auch mit geringerm Aufwand an Gelehrsamkeit behandeln als A. David-Sauvageot in seinem 400 Seiten starken, von der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften gekrönten Band: "Le réalisme et le naturalisme", der bis zum heidnischen Altertum zurückgreift und bei der^[richtig: den] Nachahmern Zolas aufhört. Ehrwürdig durch seinen Fleiß und den Eifer für die konservativen Interessen, bereichert A. de Pontmartin den Büchermarkt alljährlich um einen nach Puder und Weihrauch duftenden Band: "Souvenirs d'un vieux critique", während Paul *Bourget in seinen neuen "Études" und "Portraits" überall, echt modern, der "Krankheit des Jahrhunderts", der pessimistischen Lebensanschauung, nachforscht und Menschen wie Verhältnisse danach mißt. Flaubert, Jules Vallès, Barbey d'Aurevilly, Shelley, Rivarol, Pascal, die englische Gesellschaft werden hier im Anschluß an die früher erschienenen "Essais de psychologie contemporaine", in denen er den Genfer Amiel, dann Baudelaire, Taine, Stendhal, Renan u. a. studiert hatte, seiner scharfsinnigen, wissenschaftlichen Methode unterzogen und ihre Werke durch ihre Persönlichkeit und Lebensumstände erklärt, was zwar nicht immer streng wahr ist, aber den Eindruck des Wahren macht. Bourget pflegt seine Studien in der "Nouvelle Revue" zu veröffentlichen; seine "Psychologie de l'amour" gibt er unter dem Pseudonym Claude Larcher der minder ernsten "Vie parisienne", wo auch Gyp sich über die Gesellschaft lustig macht. Brunetières, der etwas schulmeisterliche, mürrische Kritiker der "Revue des Deux Mondes", faßt seine Arbeiten regelmäßig in Buchausgaben zusammen: "Histoire et littérature", "Le roman naturaliste". Die "Études antiques sur l'histoire de la littérature française" etc. Die "Portraits de femmes" von Arvède *Barine, welche unlängst von der französischen Akademie gekrönt wurden, entstammen der Feder einer Französin, deren russisches Pseudonym eine vielseitige Bildung, die Kenntnis ausländischer Litteraturen und kritische Feinfühligkeit deckt. Sie beschäftigte sich zuerst mit slawischen Erscheinungen, erweiterte aber ihren Gesichtskreis und zeigte sich überall zu Hause, am schwedischen Hof, wenn sie die Geschichte der Königin Christine erzählt, wie in England mit Mary Wollstonecraft, der ersten Frauenrechtlerin. "Les derniers jours de Henri Heine", in denen sich 1884 Frau Camille Selden als die "Mouche" entpuppte, an welche der kranke Dichter einige seiner Lieder gedichtet hatte, brachten zwar wenig Neues bei, klärten aber vielleicht einige dunkel gebliebene Punkte auf und fachten hier die Teilnahme für den großen fremden Dichter wieder an, der so einsam dahinsiechen mußte. Camille Selden, die zur Zeit, da sie in der Matratzengruft einen Freudenstrahl verbreitete, Frau von Kinitz hieß, äußert sich nicht gütig über Mathilde Heine; dieser ist Charles Monselet gerechter, dessen Erben einen Band: "A à Z, portraits contemporains", herausgegeben, alphabetisch geordnete Noten über bekannte Persönlichkeiten, welche keinen Anspruch auf Tiefe oder Vollständigkeit erheben, aber witzig hingeworfen und an Auskünften reich sind. Von dem Standpunkt bequemen Nachschlagens und zugleich angenehmer Lektion sind auch zu nennen: die "Année littéraire" von Paul Ginisty (1.-4 Jahrg.), die "Annales de théâtre et de la musique" von Edouard Noël und Edmond Stoullig (1875-88), wie anderseits die "Année politique" von André Daniel. *Gyp endlich unternimmt die mutwillige Kritik der Kritiker in "Ohé, les psycho-^[folgende Seite]