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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Bevölkerungsgeschichte

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Bevölkerungsgeschichte (Europa: Allgemeines).

Stämme bevölkern England und das nördliche Rußland, die Mauren Spanien, und die Slawen breiteten sich im heutigen Ostpreußen, in Österreich und Rußland aus, wogegen später deren Gebiete zum großen Teil von deutschen Völkern kolonisiert und germanisiert wurden, wodurch die Dichte auch dieser Gebiete anwuchs. Mit dieser äußern Kolonisationsthätigkeit ging eine innere Hand in Hand, so daß sowohl die ländlichen Ansiedelungen als später mit dem 12. und 13. Jahrh. auch die Städte emporwuchsen. Um jene Zeit zeigen die Erscheinungen der Bevölkerungsbewegung denselben Charakter wie im Altertum: die Ehen sind zahlreich und werden früh geschlossen, die Geburtsziffer steht hoch und zwar nicht nur die eheliche. Und doch ist die Familie nicht besonders groß, 5-6 Personen im Durchschnitt. Ursache sind die höchst ungünstigen sanitären Verhältnisse und zwar insbesondere die enorme Kindersterblichkeit, Erscheinungen, welche wir heute noch bei den untersten Bevölkerungsschichten bemerken. Das weibliche Geschlecht war im Mittelalter an Zahl verhältnismäßig starker als heute, wozu vornehmlich die häufige Verwitwung infolge der Kriege etc. beigetragen haben mag. Wir können nun annehmen, daß der Prozeß allmählicher Erholung und Ausbreitung der Bevölkerung bis in das 14. Jahrh. einerseits keine wesentliche Störung, selbst nicht durch die Kreuzzüge, Kriege und Volkskrankheiten, erfuhr, anderseits aber einen sehr langsamen Gang aufwies. Sein Effekt war eine vollständige Verschiebung des populationistischen Schwerpunktes. Die dichtesten Gegenden sind nunmehr Frankreich, Spanien und Italien, während die deutschen Gebiete bei der weitgehenden Kolonisierung, welche von ihnen ausging, für sich selbst keine besondere Bevölkerungsdichte beibehalten konnten. Der Osten ging durch die Mongolenherrschaft der Bevölkerungsentwickelung für viele Jahrhunderte verloren.

Dieser günstige Entwickelungsprozeß wurde nun im 14. Jahrh. plötzlich zum Stillstand gebracht und ging vielfach in einen Bevölkerungsrückgang über. Drei Jahrhunderte hindurch, bis zur Mitte des 17. Jahrh., stellt sich eine Kette von Hindernissen der Volksvermehrung entgegen: der Schwarze Tod im 14. Jahrh., welcher ein Viertel der damals 100 Mill. betragenden Bevölkerung Europas hinwegraffte, die Religionskriege, die Türkenherrschaft, die Vertreibung der Mauren aus Spanien, die Bauernkriege und der Dreißigjährige Krieg, endlich die Pesten des 16. und 17. Jahrh.

Die mit Ende des 17. Jahrh. nun einsetzende dritte Periode der Bevölkerungsentwickelung, welche bis zur Wende des 18. und 19. Jahrh. andauert, stellt sich als Periode einer äußerst langsamen Vermehrung, wenn nicht vielleicht als eines Stillstandes dar, in welcher die Wunden der verflossenen Zeit zunächst zu verharschen beginnen; die Städte werden allerdings nun bedeutend volkreicher, aber dies geschieht auf Kosten der Landorte, und die Bevölkerung dieser letztern vermag sich, in die Schienen der Grundhörigkeit eingeengt, nicht gesund zu entfalten.

Erst mit dem 19. Jahrh., vornehmlich seit Beendigung der Napoleonischen Ära, beginnt eine neue, noch nie dagewesene Epoche der populationistischen Entwickelung, welche bis heute andauert und in einem rapiden Aufschwung der Volkszahl überhaupt, dabei in einem enormen Anwachsen der Städte besteht. Die sich dabei darbietenden Progressionen der Volksziffer sind geradezu gewaltig: das germanische Europa hat sich in 60 Jahren, Preußen, Schottland, Dänemark, Schweden, Finnland in 70, Sachsen und Serbien in 50, England, Norwegen, Griechenland und Rumänien in 55-60 Jahren an Einwohnern verdoppelt. Allerdings sind auch hier wieder Ausnahmen zu notieren: Frankreich blieb zurück und brauchte 200 Jahre, Italien 117 zur Verdoppelung seiner Volkszahl. Der Gesamteffekt bleibt aber doch, daß die Bevölkerung des europäischen Kontinents, welche 1800: 175 Mill. betrug, gegen das Ende der 80er Jahre auf 350 Mill. angewachsen ist, sich somit in etwa 87 Jahren verdoppelt hat; es ist dies eine Progression, welche, als dauernd angesehen, um das Jahr 2000 etwa 1 Milliarde Menschen für Europa ergeben würde. Die Ursache dieses gewaltigen Aufschwunges der Bevölkerung liegt hauptsächlich in der Ausbildung der wirtschaftlichen Verhältnisse, welche von allen Seiten auf diesen Effekt hinauslaufen; nicht minder aber hat die Besserung der sanitären Bedingungen die Sterblichkeitsziffer herabgedrückt, was gleichfalls als Effekt des Gesamtkomplexes der sozialpolitischen Maßnahmen angenommen werden darf. Überdies aber traten Volkskrankheiten und Elementarereignisse in diesem Jahrhundert mit geringerer Kraft auf, und auch die Kriege haben viel von ihrer frühern Hemmungskraft verloren. Darüber aber vermag keine Forschung Auskunft zu geben, ob nicht wieder, so wie es bisher so oft der Fall war, welterschütternde Ereignisse die Bevölkerung in ihrem Anwachsen aufhalten oder gar zurückdämmen werden.

Schon aus den oben angeführten Ziffern über die Verdoppelungsperioden hat sich ergeben, daß das Verhalten der einzelnen Völker und Staaten zu der

^[Abb.: Fig. 1. Bevölkerung der Großmächte in ihrem gegenseitigen Größenverhältnis.]