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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Höhere Lehranstalten

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Höhere Lehranstalten (Kabinettsorder v. 13. Febr. 1890, Güßfeldts Reformvorschläge).

1) Zweck und Ziel aller, namentlich aber der militärischen Erziehung, ist die auf gleichmäßigem Zusammenwirken der körperlichen, wissenschaftlichen und religiös-sittlichen Schulung und Zucht beruhende Bildung des Charakters. Keine Seite der Erziehung darf auf Kosten der andern bevorzugt werden. Der wissenschaftliche Lehrplan des Kadettenkorps stellt aber nach Meinen Wahrnehmungen gegenwärtig zu weitgehende Anforderungen an eine große Zahl von Zöglingen. Die Lehraufgabe muß durch Ausscheidung jeder entbehrlichen Einzelheit, insbesondere durch gründliche Sichtung des Memorierstoffes durchweg vereinfacht werden, so daß auch minder beanlagte Schüler bei entsprechendem Fleiße dem Unterricht ohne Überanstrengung folgen und den gesamten Lehrgang in der vorgeschriebenen Zeit zurücklegen können. Was der Unterricht hierdurch an Ausdehnung verliert, wird er an Gründlichkeit gewinnen. Nach diesem Gesichtspunkt werden die Lehrer in allen Fächern und auf allen Stufen ihre Methode fortan einzurichten haben.

2) Bei aller Vereinfachung muß der Unterricht hierdurch indessen noch mehr dahin nutzbar gemacht werden, daß die Kadetten nicht allein die für den militärischen Beruf unmittelbar erforderlichen Vorkenntnisse und Fertigkeiten gewinnen, sondern auch ein geistiges Rüstzeug erhalten, welches sie befähigt, selber dereinst in der Armee, der großen Schule der Nation, sittlich erziehend und belehrend zu wirken oder, falls sie später in einen andern als den militärischen Beruf übertreten, auch dort ihren Platz ausfüllen.

Im Religionsunterricht ist die ethische Seite desselben hervorzuheben und das Hauptgewicht darauf zu legen, daß die Zöglinge in Gottesfurcht und Glaubensfreudigkeit zur Strenge gegen sich, zur Duldsamkeit gegen andre erzogen und in der Überzeugung befestigt werden, daß die Bethätigung der Treue und Hingabe an Herrscher und Vaterland gleichwie die Erfüllung aller Pflichten auf göttlichen Geboten beruht.

Der Geschichtsunterricht muß mehr als bisher das Verständnis für die Gegenwart und insbesondere für die Stellung unsers Vaterlandes in derselben vorbereiten. Demzufolge wird die deutsche Geschichte, insbesondere die der neuern und neuesten Zeit, stärker zu betonen, die alte Geschichte und die des Mittelalters aber vornehmlich in dem Sinne zu lehren sein, daß der Schüler durch Beispiele auch aus jenen Epochen für Heldentum und historische Größe empfänglich gemacht wird sowie eine Anschauung von den Wurzeln und der Entwickelung unsrer Kultur gewinnt.

Die Erdkunde, die politische wie die physikalische, hat, auf der untersten Stufe von der Heimat ausgehend, zunächst den geschichtlichen unterricht auf den verschiedenen Lehrstufen zu ergänzen und zu unterstützen. Das weitere Ziel des geographischen Unterrichts ist, daß der Schüler mit seinem Vaterland und dessen Eigenart aufs innigste vertraut wird, aber auch das Ausland verstehen und würdigen lernt.

Das Deutsche wird Mittelpunkt des gesamten Unterrichts. Der Schüler ist in jedem Lehrgegenstand zum freien Gebrauch der Muttersprache anzuleiten. In den deutschen Lehrstunden selbst gleichwie im Litteraturunterricht ist bei Auswahl der Lesestücke, Vorträge und Aufsätze neben dem klassischen Altertum, seiner Sagen- und Kulturwelt, auch den germanischen Sagen sowie den vaterländischen Stoffen und Schriftwerken ganz besondere Berücksichtigung zuzuwenden, der Schüler aber auch mit dem geistigen Leben der andern wichtigen Kulturvölker der Gegenwart durch Einführung in einzelne Meisterwerke ihrer Litteratur bekannt zu machen.

Im Unterricht der neuern Fremdsprachen ist von den ersten Stufen an die Anregung und Anleitung der Kadetten zum praktischen Gebrauch der Sprachen im Auge zu behalten.

Inwieweit Ich für jetzt eine teilweise Änderung der Lehrpläne des Kadettenkorps geboten erachte, wird Ihnen durch das Kriegsministerium demnächst bekannt gegeben werden.

Ich habe durch Vorstehendes den zur Erziehung und Unterweisung der Kadetten berufenen Organen weitere Aufgaben zugewiesen, welche an ihre Einsicht und Thätigkeit erhöhte Anforderungen stellen; Ich halte Mich aber überzeugt, daß es ihrer bewährten Hingebung und Pflichttreue gelingen wird, die Aufgaben in Meinem Sinne und zu Meiner vollen Zufriedenheit zu lösen.

Mit Ihren Vorschlägen über die Art und Weise, wie die militärische Jugend auch auf den Kriegsschulen für die erziehlichen Aufgaben ihres Berufs vorzubereiten sind, bin Ich einverstanden.

Ich will, daß diese Meine Order zur allgemeinen Kenntnis der Armee gelangt, und habe Ich dieserhalb an das Kriegsministerium verfügt.

Berlin, 13. Februar 1890. Wilhelm.

Im J. 1889 hatte der bekannte Reisende und Schriftsteller Paul Güßfeldt in der »Deutschen Rundschau« (Berlin) seine Stimme zur Frage des höhern Unterrichtswesens erhoben und durch seine gewandte Darstellung sich allgemeine Beachtung erworben, die noch erhöht ward durch die Kunde, daß der Kaiser den Vorschlägen Güßfeldts nicht fern stände. Diese schließen sich dem Lehrplan der Gymnasien insoweit an, wie er beide alte Sprachen in seiner Idealschule beibehält. Aber er will das Formale dieser Sprache nur so weit gelehrt wissen, wie nötig, damit die Klassiker unter dem Beistand deutscher Übersetzungen verstanden werden. Für diejenigen, welche mehr bedürfen, lasse man die Hochschulen sorgen. Das Schwergewicht der sprachlichen Bildung falle der Muttersprache und dem Französischen zu. Aber auch im Deutschen soll verständige praktische Übung die besondere grammatische Schulung entbehrlich machen, und nur das Französische bleibt übrig als eigentliches Hauptmittel der bewußten Einführung in den eigenartigen Organismus der sprachlichen Regeln und Gesetze, obzwar auch hier alle Regeln nur durch die Macht der Beispiele sich einprägen, wozu, sowohl der Lehrer die Sprache völlig praktisch beherrschen als auch die Schüler zum wirklichen Sprechen anleiten muß. Das Englische soll nur in seinen ersten Grundlagen und gleichsam in spem futuri getrieben werden. In der Mathematik, der er hohen Wert beilegt, kommt es Güßfeldt hauptsächlich auf strenge naturgemäße Schulung des Verstandes an; er meint aber, daß für diesen Gegenstand das herrschende Klassensystem verlassen und eigne Stufen mit Abteilungen von höchstens zwölf Schülern gebildet werden müssen. In der Naturkunde dringt er auf Pflege der Anschauung und Beobachtung, in der Geschichte auf Erwärmung des Gemüts zu einer begeisterten Vaterlandsliebe. Um aber seine Wünsche wirklich erfüllt zu sehen, hält er es für nötig, daß die Schule ihre Zöglinge nach Art der englischen Day-schools den ganzen Tag für sich in Anspruch nehme, so daß ihr in viel weiterm Umfang als bisher die Erziehung und besonders auch die Körperpflege einschließlich der täglichen Mahlzeiten zufällt (vgl. Jugendspiele). Das blendende Gemälde des geistreichen Mannes setzt sich wunderbar zusammen aus einer Anzahl vortrefflicher pädagogischer Vorschriften, die aber der Hauptsache nach längst Gemeingut der pädagogischen Theorie sind, und aus idealistischen Paradoxien, die unter den gegebenen Verhältnissen und mit den gegebenen Mitteln in Deutschland höchstens als vereinzelte Versuche ausführbar sind.

Gegen Güßfeldts und andrer Reformer Vorschläge wandte sich eine Erklärung von 69 Professoren und Dozenten der Universität Halle an den preußischen Kultusminister. Sie lautete in ihrem wesentlichen Teile: »Die bevorstehenden Beratungen über