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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Ostindien

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Ostindien (Kastenwesen).

Heimat und die dortigen sozialen Einrichtungen als das Prototyp des Kastenwesens überhaupt betrachtet hat. Namentlich hat die genauere Durchforschung der alten Sanskritlitteratur einerseits, der Fortschritt der englischen Statistik in Indien anderseits eine Menge neuer Aufschlüsse über das Kastenwesen gebracht, welche ein allgemeineres Interesse beanspruchen können. In der ältesten Periode der indischen Geschichte gab es noch keine eigentlichen Kasten. Die Brahmanen scheinen sich als Hauspriester angesehener und reicher Adels- und Fürstenfamilien und als alleinige Besitzer des gesamten religiösen und gelehrten Wissens früh zu einer sehr einflußreichen Stellung emporschwangen zu haben, bildeten aber den übrigen Ständen gegenüber noch keine streng in sich abgeschlossene Zunft. Erst in einem der spätesten Lieder des Rigweda findet sich der berühmte Vers, der die Entstehung der vier Hauptkasten aus den verschiedenen Gliedmaßen des Weltgeistes Puruscha schildert und noch in der Gegenwart als die Magna Charta des Brahmanentums betrachtet wird. Der Brahmane, heißt es hier, war sein Mund; der Krieger wurde zu seinen Armen; Schenkel war das, was jetzt Vaisya (Ackerbauer) ist; aus den Füßen entstand der Sudra. Sucht man durch den mythologischen Nebel, in den diese Überlieferung den Ursprung des indischen Kastenwesens hüllt, zu dem historischen Kern vorzudringen, so wird man sich die allmähliche Entstehung dieser ständischen Gliederung etwa folgendermaßen vorzustellen haben: Bekanntlich sind die Arier, die herrschende Rasse in Indien und die nahen Stammverwandten der indogermanischen Völker Europas, vom Norden her in Indien eingewandert, wo sie die einheimische schwarze Bevölkerung teils unterjochten, teils in die Gebirge im Innern des Landes zurücktrieben. Die jahrhundertelangen Kämpfe, die um den Besitz von Hindostan geführt wurden, begünstigten das Emporkommen eines kriegerischen Adels. Zugleich entwickelten sich aber bei einem so tief religiös angelegten Volke die Brahmanen, welche mit dem wirksamsten Zaubersegen für Schlacht und Krieg bekannt waren, immer mehr zu einem geschlossenen und erblichen Stande. Den beiden privilegierten Klassen der Priester und Krieger stand die Masse des Volkes unter dem Namen der Vaisyas, d. h. der Ackerbau und Gewerbe treibenden Klasse, gegenüber. Eine ähnliche Rangordnung findet sich in dem Zendavesta der stammverwandten Iranier, wie auch im europäischen Mittelalter die gesamte Bevölkerung in den Lehr-, Wehr- und Nährstand eingeteilt wurde. In Indien stand jedoch unter diesen drei Kasten, welche unter dem Namen der »Zweimalgebornen« oder »Arier« zusammengefaßt wurden, noch eine vierte Kaste der Sklaven oder Diener, Sudras genannt, welche aus den Überresten der unterjochten Urbevölkerung des Landes bestand. Diese Vierkastenordnung war die älteste Form des indischen Kastenwesens und wurde als der Hauptpfeiler der indischen Staatsverfassung noch in einer viel spätern Epoche festgehalten, welche längst, dem Fortschritt der Kultur und Gesittung gemäß, die Anzahl der Kasten außerordentlich vervielfältigt hatte. Die indischen Gesetzbücher fassen ihrem Standpunkt gemäß, welcher jede Vermischung der Kasten als etwas höchst Sündhaftes betrachtet, die wenig geachteten Kasten der Fischer, Ärzte, Schauspieler, Gaukler etc. als Produkte verbotener Zwischenheiraten unter den vier Hauptkasten auf. Thatsächlich verdanken diese Kasten ihre Entstehung der Tendenz, jedes besondere Gewerbe in jeder einzelnen Provinz zu einer gesonderten Kaste zu erheben. Der Kastengeist, früh geweckt, hat in Indien immer weiter um sich gegriffen, und noch heute ist die Anzahl der Kasten in steter Zunahme begriffen, wie auch die gegenseitige Abschließung der Stände nicht ab-, sondern zugenommen hat. Ganz geringfügige Abweichungen von der herkömmlichen Art, ein Handwerk zu betreiben, rufen nicht selten neue Kasten ins Leben. So hat ein Teil der Milchmänner diejenigen Berufsgenossen, welche buttern, ohne die Milch vorher aufzukochen, aus der Kaste gestoßen. In Cuttack in Bengalen finden keine Ehen statt zwischen denjenigen Töpfern, welche ihre Töpferscheibe sitzend drehen und kleine Töpfe formen, und jenen, die ihre Scheibe stehend drehen und große Töpfe verfertigen. Innerhalb der Fischerkaste gibt es eine Unterkaste, welche die Maschen von rechts nach links, und eine andre, welche sie von links nach rechts arbeitet. Aus der Sanskritlitteratur, aus dem Erbrecht und aus den alten Inschriften läßt sich entnehmen, daß Zwischenheiraten selbst unter den Mitgliedern verschiedener Hauptkasten früher, wenn auch verpönt, doch keineswegs selten waren. Heutzutage zerfällt jede einzelne Kaste wieder in eine Menge Unterabteilungen, denen jeder nähere gegenseitige Verkehr untersagt ist. J. ^[John] Wilson, der sich die Darstellung des indischen Kastensystems zu seiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe gemacht hatte, kam in zwei Bänden nicht über die Schilderung der verschiedenen Verzweigungen hinaus, in welche die Brahmanenkaste zerfällt (»Indian Caste«, Bombay 1877). Der Kastengeist hat sich in Indien sogar stärker als der Islam erwiesen. Als die Mohammedaner Indien erobert hatten, nahmen sie nach und nach das Kastenwesen selbst an, und es gibt heutzutage in Indien kastenartige Unterschiede unter den Mohammedanern so gut wie unter den brahmanistischen Sekten. Auch die englische Herrschaft hat das Kastenwesen bisher nur wenig gelockert, wenn auch das Zusammentreffen der verschiedensten Kasten in den englischen Schulen, Eisenbahnen und Tramways zur Beseitigung der alten Standesvorurteile erheblich beiträgt.

Die Brahmanen, 13,730,045 Köpfe nach der Volkszählung von 1881, sind keineswegs als eine eigentliche Priesterkaste anzusehen. Schon in alter Zeit griffen sie des Lebensunterhalts wegen zu den verschiedensten Beschäftigungen. Heutzutage huldigt nur ein sehr geringer Prozentsatz der Brahmanen religiösen oder gelehrten Berufen, dagegen sind die verschiedensten andern Rangklassen bei ihnen vertreten, von dem stolzen Radscha bis zu dem halbnackte brahmanischen Bauer von Orissa. Sehr viele Brahmanen sind Bettler, andre dienen als Sepoys in der englischen Armee oder als Schreiber in englischen Büreaus etc. Obwohl nach außen hin streng abgeschlossen und den Besitz der über die Schulter geschlungenen Brahmanenschnur als ihr ausschließliches Privilegium betrachtend, zerfallen sie doch unter sich in zahlreiche Unterabteilungen, die nicht untereinander heiraten und nicht miteinander speisen dürfen. Hunter, der bekannte englische Statistiker, erzählt, daß er 1869 einen Verbrecher aus der Brahmanenkaste im Kerker traf, der versuchte, sich durch Hunger zu töten, und sich lieber körperlicher Züchtigung unterziehen als die Speisen genießen wollte, die ein aus dem Nordwesten gebürtiger Brahmane für ihn gekocht hatte. Die kriegerischen Radschputen (von dem Sanskritwort râjaputra, »Königssohn«), 7,107,828 Köpfe, sind die Nachfolger der alten Kschatriyas oder Radschanyas, der Krieger- und Adelskaste. Aber diese Kaste hat die mannigfaltigsten Elemente in sich aufgenommen, und noch heutzutage kann man in den entferntern Provin-^[folgende Seite]