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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Psychologie

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Psychologie (Forschungsgebiete).

Zweifel, daß auch ein Messen innerer Akte an den parallel gehenden äußern Ereignissen dem Psychologen erlaubt und wertvoll ist. Ebenso wie der Physiker mit dem Thermometer Wärmegrade an Längenverschiedenheiten und mit dem Galvanometer Stromstärken an Winkelgrößen mißt, ebenso mißt der Psycholog Zeit oder Stärke psychischer Prozesse an dem äußern und andersartigen Phänomen des Zwischenraums zwischen zwei Bewegungen oder der objektiven Intensität von Helligkeiten. Ein solches Verfahren wird wesentlich durch zwei Grundeigenschaften der Seele ermöglicht, nämlich durch die eine, daß innere Geschehnisse sich in Bewegungen äußern, und durch die andre, daß wir unmittelbar zwischen Gleich und Ungleich unterscheiden. Auf jene führen die Reaktionsversuche zurück, auf diese sämtliche Messungen in der Sphäre der Sinnesempfindungen. Ergänzend treten seelische Eigenschaften hinzu, welche nur einem besondern Komplex (z. B. dem Gedächtnis) angehören, und die gedeihliche Fortentwickelung der numerischen Methode dürfte von der Auffindung weiterer solcher Sondereigenschaften abhängen. So oft die Methode nicht bloß geistige Geschehnisse in Zahlen einfängt, sondern direkt mißt, darf sie den Namen Psychometrie beanspruchen. Zu den aufgezählten Untersuchungsweisen treten namentlich noch viele Hilfsmethoden, z. B. die speziell anatomische oder die sprachwissenschaftliche.

Forschungsgebiete der Psychologie.

Die folgende Übersicht beansprucht nicht den Wert einer systematischen oder gar erschöpfenden Darstellung. Sie wünscht nur diejenigen Felder zu umgrenzen, auf denen augenblicklich mit Erfolg gearbeitet wird. Daß darunter die sogen. physiologische P. fehlt, hat seinen Grund. Die von ihr versuchte Vermischung zweier gänzlich heterogener Reihen ist schlechterdings unmöglich; was in ihrem Bereich geleistet worden ist, gehört entweder der P. oder der Physiologie oder der Psychophysik an oder beschränkt sich endlich auf eine Förderung der Methodik.

1) Psychogenesis, d. h. Erforschung der Entstehung psychischen Lebens in der Urzeit. Eng verknüpft mit den Grundfragen der Anthropologie und des Darwinismus, hat sie bisher mehr Probleme als Lösungen zu Tage gefördert. (Häckel, »Natürliche Schöpfungsgeschichte«, 8. Aufl., Berl. 1889).

2) Individualpsychologie. Ihr Gegenstand ist ein normaler, erwachsener Kulturmensch und zwar sowohl seine Funktionen (z. B. Stumpf, »Tonpsychologie«, Leipz. 1883-90, 2 Bde.) als seine Arten (Simmel, »Die P. der Frau« in der »Zeitschrift für Völkerpsychologie«, 1889; Dilthey, »Dichterische Einbildungskraft«, Leipz. 1886). Eins ihrer wesentlichsten Hilfsmittel liegt in Selbstzeugnissen und Biographien abgeschlossener Individualitäten, ja sogar in poetischen Darstellungen (die »psychologische Schule« unter den französischen Romanschriftstellern).

3) Psychophysik (s. d.). Eigentlich eine ebenso selbständige Wissenschaft wie P. und wie Physik, dadurch indessen, daß die durch den Wechsel der äußern Einflüsse herbeigeführten Veränderungen im innern Geschehen eben über dieses innere Geschehen selbst Aufschlüsse enthalten, von besonderer Bedeutung für den Psychologen. Die Psychophysik untersucht mittels exakter Wertzeichen: a) die Empfindung, eine psychologische Thatsache, welche unmittelbar von gewissen äußern Grundbedingungen abhängt, und b) die Bewegung aus innerm Antrieb, einen physiologischen Vorgang, dessen Ursachen sich im allgemeinen nur in der Selbstbeobachtung zu erkennen geben.

4)-6) Sozialpsychologie, die Wissenschaft vom seelischen Menschen als von einem gesellschaftlichen Wesen. 4) Ethnologische P., besonders durch Adolf Bastian vertreten. Ihre Hauptgedanken sind die folgenden: a) Das Individuum, für sich als etwas Selbständiges betrachtet, existiert in der sozialen Wirklichkeit nicht, ist eine Abstraktion. Die Menschheit, ein Begriff, der kein Höheres neben sich kennt, ist für die umfassende P. zum Ausgangspunkt zu nehmen, als das einheitliche Ganze, innerhalb dessen der Einzelmensch (das »politische Tier«) nur als integrierender Bruchteil figuriert. b) Diese seelische Menschheit findet sich gewissermaßen niedergeschlagen in den Völkergedanken, d. h. in den ursprünglichsten und eigentümlichsten menschheitlichen Gedanken; in ihnen, nicht in den subjektiv individuellen Empfindungen, offenbart sich das Wesen des Psychischen. c) So entsteht die Aufgabe einer Gedankenstatistik, die Aufgabe, ein Inventar über die Machtsphäre des innern Lebens aufzunehmen. Alle Zeiten und alle Völker müssen berücksichtigt werden, nicht bloß, wie üblich, die Kulturvölker, denn das wäre ebenso, als ob man die Botanik auf die Kulturpflanzen beschränken sollte. Es gilt demnach, alles zu sammeln, zu vergleichen, nach höhern Einheiten zusammenzuordnen und in einer Entwickelung darzustellen; denn es wird vorausgesetzt, daß im Bereich der Ideen der Völker oder des menschheitlichen Geisteslebens nicht minder ein organisches Wachstum statthat wie auf dem Gebiete des körperlichen Lebens. d) Die Buntheit der Lokaldifferenzen stört diese Arbeit nicht, im Gegenteil, sie läßt sich nützlich verwerten, da, den abgeschlossenen Kreisen einer bestimmten Fauna oder Flora entsprechend, eine geographische Provinz auch für den psychischen Menschen existiert und als solche beschrieben werden kann. Dagegen fehlt der Völkerkunde ebenso wie etwa der Zoologie zunächst jede Berührung mit der Chronologie.

5) Völkerpsychologie, von Lazarus und Steinthal begründet und in der von beiden seit 1860 herausgegebenen »Zeitschrift für Völkerpsychologie« gepflegt. Sie sucht aus den einfachsten Erzeugnissen der menschlichen Geselligkeit den umfassenden Organismus des Volksgeistes zu erklären, so daß wir allmählich alle wesentlichen Formen und Erzeugnisse des Zusammenlebens der Menschheit, wie Familie, Staat, Stände, Religion, Litteratur etc. nach- und nebeneinander entstehen, sich gegenseitig fördern und hemmen sehen. Es soll eine neue Beziehung geschaffen werden zwischen der Geschichte als einer Art beschreibender Naturgeschichte des Geistes und der Völkerpsychologie als einer Art erklärender Physiologie des geschichtlichen Lebens der Menschheit. Gegen dieses Programm haben Einwände erhoben E. v. Hartmann, H. Paul und W. Wundt; letzterer begrenzt ihre Aufgabe auf Sprache, Mythus und Sitte.

6) Sprachpsychologie. Sie untersucht die psychologische Entstehung und Wirkung der Sprache. Die Entwickelung des Gefühls und das Verhältnis zwischen Fühlen und Denken läßt sich an den Sprachen sehr schön verfolgen, denn sie entstehen aus Gefühlen, werden zum Ausdruck des Wissens und kehren gelegentlich wieder zu ihrem Ursprung zurück. Dabei zeigt sich die Bedeutung des Prinzips des kleinsten Kraftmaßes: eine zweckmäßig arbeitende Organisation löst eine ihr obliegende Aufgabe mit den relativ geringsten Mitteln. Das kraftersparende Mittel der Seele ist aber die Gewohnheit, wie sie sich z. B. in der Analogiebildung aller Sprachen äußert, also etwa darin, daß wir von dem Alter als von dem