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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Theologische Litteratur

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Theologische Litteratur (Dogmatik etc.).

Wesen, sei es in den Formen der alten Metaphysik, sei es in denjenigen der orthodoxen Dogmatik, Aussagen zu wagen, die umgekehrte Folgerung zieht, daß man ihn nur als Macht der Liebe erfahren könne, schlechterdings aber auch als solche erfahren haben müsse, wofern die sittliche Lebensaufgabe mit rechtem Mut und Glauben an das Gelingen in Angriff genommen und mit ausdauernder Geduld trotz aller vom Naturmechanismus und menschlichen Gesellschaftsleben ausgehenden Hemmungen ihrer Lösung näher gebracht werden solle. Das Ergänzungsstück zu solchem Gottesglauben bildet natürlich ein Werturteil hinsichtlich des Menschen, welches in ein umgekehrtes Verhältnis zu dessen von der Gegenseite mit Vorliebe betonter, unscheinbarer Stellung im unendlichen Weltganzen tritt. Daß vielmehr Christus das Bewußtsein begründet habe, das persönliche Leben des Menschen sei mehr wert als die ganze Welt (Mark. 8, 35-37) und liege in einer überweltlichen, der zählenden und messenden Wissenschaft überhaupt unerreichbaren Höhe: darin wird gerade das Epochemachende seiner Erscheinung, der dieser zukommende Offenbarungscharakter erkannt.

Es mag für diejenigen, welche wünschen, sich mit einer theologischen Richtung, die zur Zeit den Mittel- und Streitpunkt so zahlreicher Debatten und Kontroversen bildet, näher bekannt zu machen, genügen, auf zwei Arbeiten hinzuweisen: einesteils auf die Darstellung des Lebens und Strebens von Albrecht Ritschl in der »Allgemeinen deutschen Biographie« von der Hand seines Sohnes, des Kieler Professors Otto Ritschl; anderseits auf die Rektoratsrede, welche bald nach des Meisters Tode derjenige seiner Schüler, der den Geist dieser Theologie nicht bloß durchaus selbständig erfaßt, sondern auch in einer Reihe von bedeutenden Werken zu charakteristischem Ausdruck gebracht hat, Professor Wilhelm Herrmann in Marburg, gehalten und unter dem Titel: »Der evangelische Glaube und die Theologie A. Ritschls« herausgegeben hat (1890). Hier finden auch die maßlosen Angriffe ihre Würdigung, welche der verstorbene Theolog, dem man doch die Wiederentdeckung einiger der zukunftsvollsten Grundgedanken der lutherischen Reformation verdankt, gerade von seiten des konfessionellen Luthertums erfahren mußte. »Ein Mann, der an seinem Lebensabend eine kleine Zahl akademischer Theologen in seinen Kreis gezogen hat, wird von den einflußreichsten Häuptern zahlreicher theologischer Gruppen als eine ungeheure Gefahr für die Kirche hingestellt. Dabei wird die Polemik gegen ihn und seine Schüler in einer Form geführt, welche in der That so aussieht, als wenn seine Widersacher durch wirkliche Angst der verständigen Überlegung beraubt wären. Kaum wird es irgendwo sonst vorkommen, daß man einen Satz, den man selbst hergestellt hat, als ein Citat aus einer Schrift des Gegners ausgibt und dann an dieses erdichtete Citat den härtesten Tadel des Gegners knüpft« (S. 6). Anderseits ist der in Rede stehenden Schule aber auch eine achtbare und durchaus wissenschaftlich verfahrende Gegnerschaft teils durch R. A. Lipsius in Jena, welcher unter dem Titel: »Die Hauptpunkte der christlichen Glaubenslehre, im Umrisse dargestellt« seinen religionsphilosophischen und dogmatischen Standpunkt soeben noch einmal in kürzester Form lichtvoll zusammengefaßt hat (»Jahrbücher für protestantische Theologie«, 1890, auch selbständig 1891 in zweiter Auflage erschienen), teils aber auch durch Otto Pfleiderer in Berlin erwachsen, welcher seine Proteste gegen Ritschlsche Theologie und Exegese in derselben Zeitschrift (1889 und 1890) energisch fortsetzt. Dies geschieht wesentlich von einem zeitgemäß modifizierten Standpunkt Hegels aus. Mindestens gilt hier das theoretische Moment in der Religion als neben dem praktischen gleich berechtigt und einer läuternden Bearbeitung, einer Erhebung aus der widerspruchsvollen Form der Vorstellung in die adäquate des reinen Gedankens zugänglich und fähig, so daß jene reine Entgegensetzung von Religion und Metaphysik, welche die weithin erkennbare Etikette der Ritschlianer bildet, abgelehnt wird.

Wir mußten diese Debatte wenigstens kurz berühren, verhehlen uns aber keineswegs, daß dem Eifer und Aufwand von Verstandes- und Gemütskräften, womit dieselbe unter wenigen Sachverständigen geführt wird, das Interesse wenig entspricht, welches ihr in weitern Kreisen entgegengebracht wird. Immerhin könnte man »Die christliche Welt«, eine Zeitschrift, die seit 1887 vom Pfarrer Rade mit Geschick im Sinne der jüngern Ritschlschen Schule redigiert wird, und die seit 1891 von Gottschick herausgegebene »Zeitschrift für Theologie und Kirche« als günstige Symptome betrachten. Dagegen vertreten die »Protestantischen Flugblätter«, das »Norddeutsche Protestantenblatt« und die »Protestantische Kirchenzeitung« wie auch manchen Orts die kirchliche Lokalpresse jedenfalls ein viel entschiedener fortschrittlich gefärbtes, die Gegensätze zwischen alter und neuer Glaubensweise rücksichtsloser bekennendes Programm. Kein »neues Dogma«, wie Professor Kaftan in Berlin es verlangt, sondern einfache evangelische Wahrheit mit ihrer durchaus sittlichen Begründung und Abzweckung lautet hier die Parole, ernst und klar entwickelt in des gothaischen Superintendenten, jetzt meiningischen Oberkirchenrats Otto Dreyer Schrift: »Undogmatisches Christentum« (4. Aufl. 1890). Noch tiefer eingegriffen hat des badischen Pfarrers Wimmer anonym erschienene Schrift: »Im Kampfe um die Weltanschauung«, deren rasche Verbreitung (zwei Ausgaben, deren erste 1888 in 2 Auflagen, die zweite 1888-89 in weitern 7 Auflagen erschienen ist; eine holländische u. eine englische Übersetzung stehen bevor) Zeugnis davon ablegt, welch tiefgehende Teilnahme die religiös-sittlichen Probleme, wenn sie mit dem richtigen Organ erfaßt und in einer von aller Schulform abstrahierenden, aber unsrer Bildungsstufe angemessenen Form vorgetragen werden, immer noch begegnen. Das Gleiche gilt von desselben Verfassers Schriften: »Inneres Leben« (3. Aufl. 1890) und »Die biblischen Wundergeschichten« (4. Aufl. 1890).

Die weitaus überwiegende Mehrzahl von Produkten der kirchlichen Tagespresse dient dagegen den pietistischen, orthodoxen, konfessionellen Strömungen einer Zeit, die auf der Oberfläche und in der Mitte des Fahrwassers fast nur rückläufige Wellenbewegung zeigt, während sich Gegenströmungen sichtbar nur an beiden Ufern, fühlbar auch in der Tiefe geltend machen. Es ist nicht nötig, bei der unabsehbaren Fülle dieses Büchermarktes aber auch nicht möglich, selbst nur das Bedeutendste namhaft zu machen. Was die »innere« und »äußere Mission«, was zahllose Vereine und Gesellschaften auf diesem Gebiet leisten, das hat einen so massenhaften Charakter angenommen, daß man sich nur die Frage stellen muß, ob das Gedruckte auch wirklich gelesen wird. Sachverständige und Beteiligte halten mit dem Bekenntnis nicht zurück, daß sie »um der Sache« willen derartiges unterstützen; in ihren Arbeitsstuben türmt sich diese Litteratur von Jahr zu Jahr immer höher