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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Arbeiterschutzgesetzgebung

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Arbeiterschutzgesetzgebung (Deutschland).

12-14 Jahren auf 6 Stunden, für jugendliche Arbeiter von 14-16 Jahren auf 10 Stunden, verbot in ihnen für diejenigen unter 16 Jahren die Sonntags- und Festtagsarbeit sowie die Nachtarbeit und traf für industrielle Arbeiter Bestimmungen zur Verhinderung des sogen. Trucksystems, d. h. einer Ausbeutung derselben durch direkte oder indirekte Ablöhnung mit Waren. Im übrigen enthielt sie nur noch die allgemeine Bestimmung (§ 107): "Jeder Gewerbeunternehmer ist verbunden, auf seine Kosten alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebs und der Betriebsstätte zu thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit notwendig sind." Da man aber unterließ, obrigkeitliche Organe zu verpflichten, für die Durchführung dieser Vorschrift zu sorgen, bez. solche Organe einzurichten, so hatte die Bestimmung, mit Ausnahme weniger Distrikte, wie z. B. im Regierungsbezirk Düsseldorf, wo die Regierung auf Grund jenes Paragraphen selbständig weitere Ausführungsbestimmungen traf und deren Befolgung durchsetzte, keine praktische Bedeutung. Auch die andern Schutzbestimmungen wurden mangels obrigkeitlicher Kontrolle vielfach nicht befolgt. Außerdem hatte nur noch das sogen. Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 die bisherige gemein- und partikularrechtliche Haftpflicht der Unternehmer bei Betriebsunfällen dahin erweitert: 1) daß Eisenbahnunternehmer haften, sofern sie nicht beweisen, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eignes Verschulden des Getöteten oder Verletzten verursacht ist; 2) Bergwerks-, Steinbruchs-, Gräberei- (Gruben-), Fabrikunternehmer haften, wenn ein Bevollmächtigter oder ein Repräsentant oder eine zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiten angenommene Person durch ein Verschulden in Ausführung der Dienstverrichtungen den Tod oder die Körperverletzung eines Menschen herbeigeführt hat. Aber auch dies Gesetz hatte für industrielle Arbeiter eine geringe Bedeutung, weil es für die weitaus meisten Betriebsunfälle keine Haftpflicht der Unternehmer anerkannte und für die andern dem Verunglückten, bez. dessen Hinterbliebenen die schwierige Beweislast auferlegte.

Das zweite Stadium beginnt mit dem im J. 1876 erfolgten Rücktritt Delbrücks. Fürst Bismarck wurde nun auch der Leiter der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Delbrücks Sturz hatte seinen Grund nicht in den Anschauungen beider Staatsmänner über die Sozialpolitik, sondern in ihren Ansichten über die Zoll- und Eisenbahnpolitik. Bismarck wollte statt der seit 1865 befolgten Freihandelspolitik eine Schutzzollpolitik und in Preußen eine Verstaatlichung der Eisenbahnen durchführen; Delbrück war dagegen. Die Zollpolitik wurde seit 1879 eine entschieden schutzzöllnerische. Aber es erfolgte auch eine Änderung der Sozialpolitik. Diese Änderungen waren nur dadurch möglich, daß sich inzwischen auch ein Umschwung in der öffentlichen Meinung in den wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen vollzogen hatte. Einerseits war durch die energische Agitation der Großindustriellen (Zentralverband der deutschen Industriellen) und der sogen. Agrarier, welche durch die schädlichen Folgen der großen wirtschaftlichen Krisis von 1873 unterstützt wurde, die bisher herrschende freihändlerische Strömung einer schutzzöllnerischen gewichen, welche bei den Reichstagswahlen von 1877 zum Ausdruck gelangte und zu einer schutzzöllnerischen Majorität führte; anderseits war durch die Gründung des Vereins für Sozialpolitik und durch die Bekämpfung der Lehren des Mancherstertums seitens der Vertreter der Nationalökonomie an den deutschen Universitäten eine neue sozialpolitische Lehre und Richtung, die sozialreformatorische, begründet worden (s. Arbeiterfrage, Bd. 1, S. 752), welche in weiten Kreisen Anhänger gefunden hatte und eine Erfüllung der berechtigten Anforderungen der Arbeiterklasse im Sinn dieser Richtung forderte; eine energische Inangriffnahme der sozialen Reform wurde um so dringlicher, als die schweren Mißstände in den Verhältnissen der industriellen Arbeiter die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse steigerten und die Sozialdemokratie eine bedenkliche Ausdehnung erlangte. Für die sozialpolitische Gesetzgebung in diesem Stadium ist nun charakteristisch, daß durch den Einfluß des Fürsten Bismarck die öffentlich-rechtliche Regelung der Arbeiterversicherung in einem sehr weiten Umfang erfolgte, dagegen für den weitern Ausbau der A. sehr wenig geschah. Allerdings wurden im Anfang dieser Periode durch das den Titel VII der Gewerbeordnung abändernde Gesetz vom 17. Juli 1878 auch einige neue Arbeiterschutzbestimmungen erlassen. Die bisher für Fabriken etc. bestehenden Schutzbestimmungen wurden noch auf einige andre Gewerbebetriebei (Werkstätten mit regelmäßigem Dampfkraftbetrieb, Hüttenwerke, Bauhöfe u. Werften) ausgedehnt, in allen diesen Unternehmungen wurde jetzt die Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren unbedingt und den Wöchnerinnen die Arbeit während 3 Wochen nach ihrer Niederkunft verboten. Verboten wurde den Arbeiterinnen in Bergwerken, Salinen etc. die Arbeit unter Tage. Die bisher auf Arbeiter unter 16 Jahren beschränkte polizeiliche Kontrolle wurde auf alle Arbeiter unter 21 Jahren ausgedehnt. Eingeführt wurde ferner die obligatorische Fabrikinspektion durch besondere Aufsichtsbeamte, und der Bundesrat erhielt endlich noch die Befugnis, unter gewissen Voraussetzungen und unter dem Vorbehalt nachträglicher Genehmigung des Reichstags den Schutz für Kinder, jugendliche und weibliche Arbeiter in Bezug auf übermäßige Arbeitszeit, gesundheits- oder moralschädliche Arbeit, Nacht- und Sonntagsarbeit auszudehnen, unter Umständen aber auch einzuschränken. Von dieser Befugnis hat der Bundesrat nach beiden Richtungen (der Schutzerweiterung und -Beschränkung) Gebrauch gemacht, nach jener durch die Bekanntmachungen vom 23. April 1879 betr. Walz- und Hammerwerke, vom 23. April 1879 betr. Glashütten, vom 10. Juli 1881 betr. Steinkohlenwerke, vom 3. Febr. 1886 betr. Drahtziehereien, vom 12. April 1886 betr. Bleifarben- u. Bleizuckerfabriken, vom 9. Mai 1888 betr. Zigarrenfabriken, vom 21.Juli 1888 betr. Gummiwarenfabriken, nach dieser durch die Bekanntmachung vom 20. Mai 1879 betr. Spinnereien. Aber bei diesen wenigen Änderungen ließ man es auch in dieser ganzen Periode bewenden. Dagegen erfolgten in den 80er Jahren großartige Reformen auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung. Diese Gestaltung der deutschen Sozialpolitik ist das Werk des Fürsten Bismarck. Bismarcks sozialpolitischer Standpunkt war ein eigentümlicher. Er wollte die staatliche Fürsorge für das Wohl der arbeitenden Klassen lediglich auf die Fälle der Erwerbsunfähigkeit der Arbeiter beschränken, auf die öffentlich rechtliche Regelung der Unfall-, Kranken-, Invaliditäts- und Altersversicherung, und er hat konsequent und energisch diese Arbeiterversicherung in den Jahren 1883-89 (s. darüber die betr.