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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Arbeiterschutzgesetzgebung (das deutsche Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891)

Recht steht dem Gesellen oder Gehilfen gegen den Arbeitgeber zu, wenn er von diesem vor rechtmäßiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses entlassen worden ist.« Die Motive führten aus: Bei den zahlreichen gewerblichen Arbeitseinstellungen, die mit Vertragsbruch verbunden waren, hat sich der erhebliche Mißstand gezeigt, daß der Rechtsschutz, welchen der Arbeitgeber dem vertragsbrüchigen Arbeiter gegenüber hat, thatsächlich ungenügend ist. Will er zivilrechtlich einen Entschädigungsanspruch geltend machen, so muß er das Vorhandensein eines Schadens und dessen Höhe nachweisen. Wenn auch der Richter, sofern nur das Vorhandensein eines zu ersetzenden Schadens im allgemeinen nachgewiesen ist, nach § 260 der Zivilprozeßordnung über die Höhe desselben unter Würdigung aller Umstände, nötigen Falls nach Anhörung von Sachverständigen, nach freier Überzeugung zu entscheiden hat, so ist es doch für den Arbeitgeber meist schwierig und langwierig, dem Richter eine genügende Grundlage für eine fachgemäße Beurteilung des Schadenbetrags zu gewähren. Unter Umständen wird es für den Arbeitgeber selbst mißlich, ja unausführbar sein, in öffentlicher Verhandlung seine durch den Vertragsbruch herbeigeführte Lage aufzudecken. Ja, oft wird ein Entschädigungsanspruch deshalb scheitern, weil die Mittel fehlen, um selbst nur die Existenz eines Schadens im allgemeinen überzeugend darzulegen. Die langwierige, genaue gerichtliche Feststellung des Schadens ist aber auch der Regel nach zwecklos, weil in den seltensten Fällen der geschädigte Arbeitgeber vollen Schadenersatz vom kontraktbrüchigen Arbeiter thatsächlich erlangen kann, selbst wenn er vom Gericht ihm zuerkannt wird. Das weitläufige Schadenersatzverfahren wird deshalb von dem geschädigten Arbeitgeber fast nie eingeschlagen, weil es für ihn. keinen praktischen Wert hat. Für ihn wäre es weit wichtiger, eine kleinere Geldbuße an Stelle des größern Schadens rasch einklagen zu können. Die geringere Geldbuße, die wirklich verhängt wird, schreckt mehr vom Vertragsbruch ab als die Gefahr eines großen Schadenersatzes, der selten eingeklagt wird. Das Strafgesetzbuch hat bei Beleidigungen und Körperverletzungen einen alternativen Anspruch auf Geldbuße eingeräumt. In ähnlicher Weise geben die Urheberrechtsgesetze, das Patentgesetz, das Gesetz über den Markenschutz und das Feld- und Forstpolizeigesetz vom 1. April 1880 (§ 69-76) dem Beschädigten das Recht, statt jeder Entschädigung eine an ihn zu entrichtende Buße oder ein Ersatzgeld zu verlangen. Die Schwierigkeit des Nachweises eines bestimmten Schadenbetrags hat in diesen Gesetzen dahin geführt, neben der dem Staat verwirkten Strafe dem Beschädigten einen Sühnebetrag als Buße zuzusprechen. Es erscheint rechtlich unbedenklich, auch beim Bruch des Arbeitsvertrags dem Beschädigten die Wahl zu lassen, statt des Entschädigungsanspruchs eine an ihn zu entrichtende Geldbuße zu fordern. Der innere Grund der Einräumung eines Rechtes auf Buße liegt nicht sowohl darin, daß die Rechtsverletzung zugleich eine zivil- und kriminalrechtliche ist, als darin, daß die Ermittelung des konkreten Schadens zu schwierig ist, und daß das öffentliche Rechtsgefühl eine leichte und rasche Sühne verlangt. Hier wie dort soll die Buße dem Beschädigten mehr eine Rechtsgenugthuung als einen Ersatz seines Schadens gewähren. In der Kommission wurde dagegen sachlich geltend gemacht, daß der Arbeitsvertrag auf dem Boden des Zivilrechts stehe und daher nur den Schutz aller Zivilrechte (Klage auf Erfüllung und Entschädigung), nicht aber den des Strafrechts benötige. Die Strafbestimmung trage den Charakter eines Ausnahmegesetzes gegen die Arbeiter und würde den sozialen Frieden gefährden. Gegen die praktische Verwendbarkeit der Bußbestimmung wurde die Schwierigkeit hervorgehoben, welche aus dem Mangel jeder gesetzlichen Handhabe für das richterliche Ermessen erwachsen müsse. Es würde für den gewissenhaften Richter der subtilsten Erwägungen hinsichtlich der Schaden- und Schuldfrage bedürfen, um nach Maßgabe der vorgeschlagenen Bestimmung die Höhe der Buße festzusetzen; Willkür sei hierbei nicht zu vermeiden, die Unparteilichkeit und das Ansehen der Richter würden zumal bei großen Arbeiterbewegungen gefährdet. Jedenfalls sei mit Einführung eines so weit gehenden richterlichen Ermessens für die Festsetzung der Buße mindestens dieselbe Schwierigkeit geschaffen, die man bei dem Beweis der Höhe der Entschädigung fürchte. Übrigens sei letzterer Beweis durch die neuere Gesetzgebung ansehnlich erleichtert, da nach § 260 der Zivilprozeßordnung die freie richterliche Überzeugung im Schadenbeweis walte und die Einführung der Gewerbegerichte die Prozeß- und Beweisführung in Fragen des Arbeiterrechts wesentlich vereinfache. Diesen Äußerungen gegenüber wurde von den Regierungskommissaren darauf hingewiesen, daß die Häufigkeit der Vertragsbrüche den Charakter einer öffentlichen Kalamität trage, daß daraus große Schädigungen des Volksvermögens, Benachteiligungen insbesondere auch der Arbeiter selbst und gefährliche Schwankungen auf fast allen Gebieten des gewerblichen Lebens entstanden seien. Bußbestimmungen seien unserm Recht auch in Zivilverhältnissen nicht fremd, es liege in ihnen kein Verstoß gegen die sonstigen Grundsätze des Privatrechts, da hier öffentliche Verhältnisse in dieses hineinragten. Angesichts der großen Belastung, welche das neue Gesetz zum Wohl der Arbeiter den Arbeitgebern auferlege, könne ein berechtigtes Mißtrauen, als suche man die Arbeiter durch Ausnahmebestimmungen zu kränken, hier ebensowenig wie bei der Strafbestimmung des § 153 (s. unten) aufkommen. Anderseits habe der Arbeitgeber, dem das Gesetz so große Opfer ansinne, ein Recht auf nachhaltigen Schutz des mit diesen Opfern belasteten Arbeitsverhältnisses. Nur die vorgeschlagene Buße könne diesen Schutz ausreichend gewähren. Auch dem Arbeiter bringe die Bußbestimmung Vorteile, indem sie dem unsittlichen Gedanken, als dürfe der Arbeiter aus Vertragsbrüchen eine Besserung seiner Lage erwarten, entgegenwirke, dadurch die Neigung des Arbeiters kräftige, seine Verträge zu ehren etc. Indes weder die Kommission noch der Reichstag acceptierten den prinzipiellen Standpunkt der Bundesregierungen, man verstand sich nur zu einer neuen Regelung des Schadenersatzanspruchs im Fall des Kontraktbruchs, begrenzte aber diese Entschädigung viel geringer als die Regierungsvorlage und ließ dieselbe nur für kleine und mittlere Unternehmungen zu. Die vom Reichstag angenommene neue Bestimmung (§ 124d des Gesetzes) lautet: »Hat ein Geselle oder Gehilfe rechtswidrig die Arbeit verlassen, so kann der Arbeitgeber als Entschädigung für den Tag des Vertragsbruchs und jeden folgenden Tag der vertragsmäßigen oder gesetzlichen Arbeitszeit, höchstens aber für eine Woche, den Betrag des ortsüblichen Tagelohns (§ 8 des Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883) fordern. Diese Forderung ist an den Nachweis eines Schadens nicht gebunden. Durch ihre Geltendmachung wird der Anspruch auf Erfüllung des Vertrags und auf wei-