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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Deutsche Litteratur im Jahre 1891 (Lyrik)

abgeleugnet werden, daß sie den sich so breit machenden Surrogaten der Poesie, dem kulturhistorischen Roman, der Kostümlyrik, dem Feuilletondrama, ein Ende bereitet haben. Die alten Ästhetiker haben zwar immer diese Surrogate bekämpft, aber die feinen alten Herren haben sie nicht vernichtet, das gelang erst der Grobheit der Naturalisten; und derbe Hiebe scheinen im litterarischen Kampfe ebensowenig entbehrlich zu sein wie im politischen Krieg. Mehr aber als dieser negative Erfolg läßt sich beim unbefangensten Wohlwollen den Naturalisten doch nicht nachsagen. Die Nachahmung der Ausländer und die Verrohung des Geschmacks können sie doch wohl nicht als Ruhmestitel ansprechen. Und nun, am Ausgang des Jahres 1891, ist die Situation die, daß auch von ihnen zum Rückzug geblasen und die Erkenntnis verbreitet wird: so, mit der Verneinung eines jeden Ideals geht's nicht weiter in der Kunst. Es sind gerade die nicht am wenigsten Begabten, welche sich der Losung -Überwindung des Naturalismus« anschließen und sie in vielfachen, wenn auch nicht geglückten künstlerischen Versuchen in That umzusetzen streben: Hermann Bahr, Heinz Tovote. In der genannten Flugschriftenreihe hat eins ihrer als Kritiker angesehenen Mitglieder, Ola Hansson (»Der Materialismus in der Litteratur«), den Bruch mit dem Naturalismus eines Zola und Ibsen geradezu verkündet. In seinen Alltagsfrauen« steht Hansson noch auf wesentlich naturalistischem Boden, indem er hier Psychophysiologie des Weibes betreibt; in der wenig später herausgegebenen Flugschrift erklärt er dem dichtenden Materialismus den Krieg. Man sieht, wie schnell die »Läuterungen« vor sich gehen, und es steht zu erwarten, daß der Naturalismus eine zwar aufregende, aber kurze Episode im deutschen Litteraturleben bleiben wird. Auch zu dieser raschen Wandlung hat das Ausland den Anstoß gegeben. In den Kreisen der Jüngstdeutschen ist jetzt der von Georg Brandes angepriesene Friedrich Nietzsche der Prophet des Tages. Wunderlich genug, daß in der Zeit der alles nivellierenden sozialistischen Theorien der Philosoph des Geistesstolzes seinen Einzug hält, nachdem ihn die nordischen Heerführer auf den Schild erhoben haben. Nun glauben die jungen Deutschen sich in der Schwärmerei für den »deutschen Denker ganz gehen lassen zu dürfen, und die Lehren des Zarathustra von »über gut und böse« sind das allerneueste Evangelium der einer eignen Persönlichkeit ermangelnden Geister. Was daraus nun entstehen wird, liegt im dunkeln Schoße der Zukunft verborgen.

Dies zur allgemeinen Charakteristik des letzten litterarischen Jahres. Auf allen Gebieten der Litteratur herrscht eine rege Thätigkeit, die wir nun, soweit wir sie kennen lernen konnten, betrachten wollen.

Lyrik.

Auch hier sind die edelsten Früchte nicht auf dem Baume des Naturalismus gewachsen, der seiner innersten Natur nach zur Lyrik gar kein Verhältnis hat.

Es ist nur eine Folge der äußerlichsten Kameraderie, wenn einzelne lyrische Dichter von den Naturalisten in Berlin und München als die ihrigen ausposaunt werden, wie Detlev v. Liliencron. Seine neuen Gedichte (»Der Heidegänger und andre Gedichte«) zeigen keine neue Wendung seines nicht zu bezweifelnden Talents; er ist oft glücklich im originellen Bilde, in einer neuen Metapher, wenn auch gesucht originell; aus seiner Lyrik fühlt man in der That den Deutschen von dem Geschlecht nach 1870, in dem der Soldatenstolz nicht gering ist; ein schön empfundenes Naturbild gelingt ihm auch nicht sel ten; aber er stammelt öfters, anstatt zu singen, er beherrscht nicht die Form. Ludwig Fuldas Gedichte scheinen weitaus formgewandter, aber es ist nur eine äußerliche Reimgewandtheit, Nachempfindung vieler Originale; ansprechend sind nur Fuldas Sinnsprüche. Ganz neu sind Richard Dehmel (»Erlösungen«) u. Felix Dörmann (»Neurotica«), beide Erotiker, ungeklärt, aber begabt. Ein andrer neuer Mann ist der Wiener J. J.^[Jakob Julius] David, der in seiner Lyrik, die jedenfalls echt ist, den Nachdruck auf das Charakteristische legt, auf die unmittelbare Energie des Gefühls, mitunter auf Kosten der Form und Sprachschönheit. Auch die Gedichte »Zum Licht!« von Herm. Hango verdienen der Erwähnung, weil sie ein echtes Talent bekunden, das allerdings noch nicht fertig ist. Die Gedichte des Schauspielers Konrad Löwe sollen auch nicht ganz übersehen werden, so gering ihr eigentlicher poetischer Gehalt auch ist. Die wohlthuendsten Erscheinungen in der Lyrik rühren aber nicht von den jüngsten Lyrikern her. Rudolf Baumbachs »Thüringer Lieder« brechen sein mehrjähriges Schweigen als Sänger und zeigen neben den alten liebenswürdigen Zügen des Sprachmeisters und Anakreontikers eine Wandlung des Dichters zum Ernst, zum Humor des ältern Mannes, der sich schon außerhalb des Reigens der Jugend fühlt. Max Kalbeck hat in seiner Sammlung »Aus alter und neuer Zeit« eine Auswahl aus seinen frühern Gedichten getroffen und sie mit neuentstandenen vermehrt. Ohne eine starke Persönlichkeit zu zeigen, mutet Kalbeck durch sein seltenes Formgefühl, seine frischen, volkstümlichen Töne wohlthuend an; er versucht sich in allen metrischen Künsten mit Geschick. Ein andrer Wiener Kritiker, der geistvolle Alfred v. Berger, hat sich auch als Lyriker von origineller Persönlichkeit bekundet. Seine Gedichte zeigen uns beinahe typisch die beschauliche Philosophennatur; sie teilen auch sehr schöne Gelegenheitsgedichte (z. B. auf Raimund) mit. Hieronymus Lorms philosophische Lyrik ist wieder neu vermehrt erschienen, und der schwäbische Humorist Ludwig Eichrodt hat die ganze reiche lyrische Produktion seines Lebens in zwei starken Bänden (wohl allzu starken) gesammelt herausgegeben: ein unerschöpfliches Buch von Schwanken und Scherzen. P. K. Rosegger hat seine »Gedichte« in hochdeutscher Sprache, die bisher zerstreut und gelegentlich, teils in seine Erzählungen verflochten, teils selbständig in Zeitschriften erschienen sind, gesammelt, und sie zeigen uns den frischen, temperamentvollen Dichter von allen Seiten: als begeisterten Steirer und freigeistigen Gottsucher, als witzigen Erotiker und träumerischen Naturfreund. Aus dem Nachlaß einzelner verstorbener Dichter sind gerade im verflossenen Jahr mehrere wertvolle Sammlungen erschienen. So vor allen: Fr. Theodor Vischers »Allotria«, ein wahres Labsal für Männer, die Humor haben und schneidige Satire lieben! Was sind die Epigramme aus Baden« für ein Schatz! Und die Lieder des biedern Schartenmayer! Ein deutscher Rabelais, der den derben Ton mit der feinsten Bildung seiner Zeit vereinigen konnte, spricht uns aus diesem Bande entgegen. Auch aus dem Nachlasse Scheffels sind Gedichte gedruckt worden, die jedoch nur biographisches Interesse erregen können. Zwei Tiroler Lyriker verdienen genannt zu werden, deren Gedichte erst nach ihrem Tode gesammelt und herausgegeben wurden: Anton v. Schultern und Hans v. Vintler. Die litterarische Tageskritik, die sich nur an die Fersen der Lärmmacher heftet, hat allerdings von Schultern kaum Notiz genommen,