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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Frankreich (Geschichte)

den Ultramontanen verabscheute. Daher kam es aus unbedeutendem Anlaß sehr bald zu einem Konflikt zwischen der Regierung und der katholischen Geistlichkeit. Obwohl die Franzosen Italien die Erneuerung des Dreibundes ganz besonders verübelten, da sie dasselbe als »Schwesternation«, was in ihren Augen einem Vasallenstaat gleichkam, ansahen, so beeilte sich die französische Regierung doch, den Pilger, welcher 2. Okt. in Rom den Vorfall im Pantheon hervorrief (s. Italien, Geschichte), entschieden zu tadeln. Bei der Enthüllung des Garibaldi-Denkmals (s. Garibaldi) in Nizza 4. Okt. feierten die französischen Vertreter, auch der Finanzminister Rouvier, die Verbrüderung beider Nationen und versicherten, daß die Republik nie daran denken werde, die weltliche Herrschaft des Papstes herzustellen. Um die Wiederholung ähnlicher Vorgänge wie des vom 2.Okt. zu verhüten, forderte das französische Ministerium die Bischöfe auf, die Pilgerfahrten einzustellen, erhielt aber vom Erzbischof von Aix, Gouthe-Soulard, hierauf eine so unverschämte Antwort, daß es sich genötigt sah, gerichtlich gegen den aufsässigen Prälaten einzuschreiten; derselbe wurde in eine Geldstrafe verurteilt. Aber auch andre Bischöfe weigerten sich, der Aufforderung nachzukommen, wenn es auch in weniger schroffer Form geschah.

Als die Kammern im Oktober 1891 wieder zusammentraten, ging der Senat an die Beratung des Zolltarifs, die Kammer an die des Budgets, über welches der Abgeordnete Cavaignac einen eingehenden Generalbericht vorlegte; derselbe konstatierte eine Besserung der Finanzen seit 1883, doch sei dieselbe nur eine relative, und sowohl die Schuldenlast als die Steuern hätten sich langsam erhöht. Rouvier meinte allerdings, das Budget beweise die Finanzkraft Frankreichs auf das glänzendste, und es sei notwendig, dem Lande alle Vorteile einer Lage zur Kenntnis zu bringen, deren Darstellung in alle patriotische Herzen den zündenden Funken des Nationalstolzes werfe. Ein gleichzeitig erschienener offizieller Bericht des Chefs des Statistischen Amtes über die Bevölkerungsverhältnisse Frankreichs war freilich geeignet, diesen Stolz etwas zu dämpfen, denn er legte dar, daß 1890 in F. 38,446 Menschen mehr gestorben als geboren waren; in einem Departement kamen sogar bloß 63 Geburten auf 100 Sterbefälle. Dabei stieg die Zahl der Ehescheidungen von Jahr zu Jahr, während die Eheschließungen abnahmen. Der auffällige Rückgang der eben mit so großem Enthusiasmus aufgenommenen russischen Anleihe bewies, daß auch die vielgerühmte Kapitalkraft Frankreichs ihre Grenzen hatte. Dem Ministerium kam es vor allem darauf an, eine Spaltung in den Reihen der Republikaner zu verhüten. Die Radikalen zeigten, nachdem die Gefahren für den Bestand der Republik geschwunden waren, wieder Neigung, der Regierung entweder ihren Willen aufzuzwingen oder sie zu stürzen. Schon 31. Okt. überschüttete Clemenceau das Ministerium, besonders Freycinet, mit Vorwürfen, weil es sich nicht beeilt habe, einen wegen Aufruhrs verurteilten Sozialisten, Lafargue, der in Lille als Kandidat für eine Deputiertennachwahl aufgestellt war, sofort zu begnadigen; gegen die Gründer der Republik, äußerte er, müsse man nachgiebig, gegen ihre Feinde streng sein, ein Abgrund trenne die Anhänger der theokratischen Regierung von denen der demokratischen. Die Kammer lehnte die Begnadigung Lafargues mit 240 gegen 161 Stimmen ab. Die Folge war, daß Lafargue in Lille gegen einen Republikaner zum Deputierten gewählt wurde und nun freigelassen werden mußte. Indes wollten die überwiegend schutzzöllnerischen Konservativen die Festsetzung des neuen Zolltarifs, den der Senat noch beriet, nicht gefährden oder auch nur verzögern und deshalb jede Ministerkrisis vermeiden. Alle weitern Vorstöße der Radikalen gegen das Freycinetsche Kabinett blieben daher erfolglos.

Auch in der kirchlichen Frage wußte die Regierung sich die Zustimmung der Mehrheit beider Kammern zu erhalten, indem sie aus Anlaß einer Interpellation im Senat 9. Dez. erklärte, daß sie alle ihr zu Gebote stehenden und im Notfall noch von den Kammern zu erbittenden Mittel anwenden werde, um Übergriffe der Bischöfe und des Klerus zu unterdrücken, und im äußersten Falle nicht vor der Trennung von Staat und Kirche zurückscheue. Der Senat billigte diese Erklärung mit 211 gegen 57 Stimmen. Als darauf die Radikalen in der Kammer die Kündigung des Konkordats forderten, lehnte Freycinet dieselbe jedoch als gegenwärtig unbegründet und schädlich ab, und die von ihm gebilligte Tagesordnung wurde 12. Dez. mit 243 gegen 223 Stimmen angenommen.

Da der Senat den neuen schutzzöllnerischen Zolltarif im wesentlichen genehmigte, war die Neuregelung der Handelsbeziehungen Frankreichs zu den andern Ländern nach dem am 1. Febr. 1892 bevorstehenden Ablauf der Handelsverträge notwendig. Die Regierung suchte daher bei den Kammern die Ermächtigung nach, auf Grund des neuen Minimaltarifs mit den in Betracht kommenden Ländern in Verhandlungen zu treten und auf alle, die F. das Meistbegünstigungsrecht zugeständen, den Minimaltarif anzuwenden. Der Abschluß der neuen Handelsverträge zwischen den Mächten des Dreibundes, denen sich auch Belgien und die Schweiz angeschlossen hatten, erweckte in F. ernste Besorgnisse. Denn auch der französische Minimaltarif war noch so hoch, daß die Nachbarstaaten für die Bewilligung des Meistbegünstigungsrechts über denselben hinausgehende Zugeständnisse forderten; so kam, da F. diese verweigerte, mit Spanien gar keine Erneuerung des Handelsvertrags zu stande, während andre Länder, wie die Schweiz und Belgien, nur auf kurze Frist die Verträge verlängerten. Der in F. so vielfach bemängelte 11. Artikel des Frankfurter Friedens vom 10. Mai 1871, in dem sich F. und Deutschland die Meistbegünstigung in allen England, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich und Rußland gewährten Zollsätzen zusicherten, kam jetzt F. sehr zu statten. Da das Budget für 1892 erst im Januar 1892 zu Ende beraten werden konnte, blieben die Kammern ohne Unterbrechung über Weihnachten und Neujahr hinaus versammelt. Erst 23. Jan. vertagten sie sich bis 16. Febr. Außer dem neuen Zolltarif und dem Budget wurde unter anderm noch ein sehr strenges Spionagegesetz beschlossen, das für die meisten Fälle Todesstrafe festsetzte. Kurz vor der Vertagung kam es 19. Jan. noch zu einem tumultuarischen Auftritt in der Kammer. Rocheforts »Intransigeant« hatte einen Artikel: »Vierzig Jahre aus dem Leben eines Ministers« veröffentlicht, in welchem er den Minister des Innern, Constans, der durch sein energisches Eingreifen den Boulangismus unterdrückt und dadurch den ingrimmigen Haß der Boulangisten sich zugezogen hatte, vieler gemeiner Verbrechen bezichtigte. Die Boulangisten Lejeune und Laur richteten über den Artikel eine Interpellation an die Regierung, welche nur den Zweck hatte, unter dem Schutze der Deputiertenimmunität Constans zu