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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Illegitimität (gesetzliche Bestimmungen in Deutschland u. Österreich)

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Illegitimität'

Anmerkung: Fortsetzung von [V. Die Bewegung der Ziffer der unehelichen Geburten..]

schwer zu sagen, um so mehr, als hier nicht genügend bekannte religiöse Vorstellungen und Volkssitten mit in Betracht kommen. In mehreren südamerikanischen Mischstaaten z. B. steht die Ziffer der unehelichen Geburten ziemlich hoch und beträgt ein Fünftel bis ein Viertel aller Geburten. Dagegen sehen wir, daß in den europäischen Ländern von niederer Kulturstufe, im Osten und Südosten, die I. im allgemeinen sehr gering, dagegen die Eheschließung allgemein und frühzeitig ist. Die Entwickelung der Unehelichkeit in den europäischen Staaten in den letzten Jahrzehnten (welche bezüglich einzelner, z. B. Frankreich, Österreich, bis gegen den Anfang des Jahrhunderts verfolgt werden kann) ist eine örtlich verschiedene. Die I. nimmt in einigen Ländern zu, in welchen sie bisher gering war, z. B. in dem allmählich der Kultur zugeführten Rumänien, Serbien, Ungarn, Kroatien-Slawonien, und kann hier wohl als Begleitumstand unsrer Kultur bezeichnet werden. Ein ganz ähnlicher Gang zeigt sich in Italien und Belgien. Was die Länder mit hoher Ziffer anbelangt, so behauptet sich dieselbe entweder, wie in Österreich, Norwegen und Schweden, mit größern Schwankungen und hier und da Steigungen in der letzten Zeit, oder aber sie geht, wie in einigen deutschen Staaten (Preußen, Sachsen, Württemberg, Baden) zurück. Dagegen hat sich dieser Rückgang in der letzten Zeit wieder verlangsamt, so besonders in Bayern, wo er nach 1868 (Aufhebung der Ehebeschränkung) sehr stark war. In den Ländern mit mittlerer I., wie insbesondere Frankreich, schwankt die Ziffer seit 1800, erfährt aber in unsrer Zeit eher eine leise Erhöhung und keinesfalls eine Senkung. Versuchen wir, aus diesen Anhaltspunkten ein Gesamturteil zu schöpfen, so wird dies dahin lauten können, daß im allgemeinen keinesfalls eine Tendenz zur Abnahme der unehelichen Geburten in Europa statthabe, daß vielmehr zum mindesten eine Behauptung auf der gewonnenen Höhe und ein Ansteigen in der jüngsten Zeit angenommen werden könne. Dies ist aber ein ungünstiges Symptom, wenn wir bedenken, daß der Eheschließung in der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts keine gesetzlichen Beschränkungen mehr entgegenstehen und auch die sogen. persönliche Freiheit in allen ihren Formen, auch der wirtschaftlichen, die Eingehung einer Ehe viel leichter macht als früher. Es müssen also wohl alle jene mannigfaltigen Umstände, welche wir als die ganz spezifische Kultur unsers Jahrhunderts bezeichnen können, zusammen einen ungünstigen Einfluß auf die Entwickelung der I. ausüben.

VI. Die Illegitimität in einigen Staaten. Gesetzliche Bestimmungen.

1) Deutsches Reich. Die Konstatierung der Vaterschaft geschieht in Preußen durch einen offiziell bestellten Vormund; das uneheliche Kind erbt nach der Mutter gleich dem ehelichen, dagegen nach dem Vater, und zwar mit einem Sechstel, nur in Ermangelung ehelicher Kinder, sonst bestehen nur Alimentationsansprüche gegen ihn und die Mutter. Im Rheinland herrscht das französische Recht. In Bayern gilt im allgemeinen dasselbe Erbrecht wie in Preußen, und die Vaterschaft kann mit allen Mitteln bewiesen werden; übereinstimmende Gesetzgebung auch in Württemberg und Sachsen. In Baden kann als Vater derjenige erklärt werden, der die Mutter des unehelichen Kindes »ausgehalten« hat, ferner wer des zufälligen Umganges mit ihr oder eines Gewaltaktes an ihr überführt wurde. Die Illegitimitätsziffer steigt für den Gesamtumfang des Reiches, nachdem sie während des Krieges von 1870/71 begreiflicherweise niedrig ↔ stand, von da ab stetig an und verrät nur in den letzten Jahren eine schwache Gegentendenz. 1875 waren 8,6 Proz. der Gebornen unehelich, 1885: 9,5, 1889: 9,3 Proz. In den Hauptgebieten des Reiches entfielen 1889 auf 100 Geborne Uneheliche:

Ostpreußen10,4Hessen7,5
Westpreußen8,2Mecklenburg-Schwerin13,3
Stadt Berlin12,8Sachsen-Weimar9,5
Brandenburg10,5Mecklenburg-Strelitz12,5
Pommern10,5Oldenburg5,6
Posen6,8Braunschweig10,9
Schlesien10,7Sachsen-Meiningen12,6
Sachsen9,5Sachsen-Altenburg11,2
Schleswig-Holstein9,2Sachsen-Koburg-Gotha11,6
Hannover6,8Anhalt8,6
Westfalen2,7Schwarzbg.-Sondersh.9,9
Hessen-Nassau6,2Schwarzburg-Rudolst.10,6
Rheinland3,7Waldeck7,6
Hohenzollern8,6Reuß ä. L.7,9
Königreich Preußen8,0Reuß j. L.11,3
Franken14,2Schaumburg-Lippe3,5
Bayern r. d. Rheins15,8Lippe5,3
Bayern l. d. Rheins6,1Lübeck9,4
Königreich Bayern14,0Bremen6,6
Königreich Sachsen12,6Hamburg11,1
Württemberg10,1Elsaß-Lothringen8,1
Baden8,2Deutsches Reich9,3

Halten wir diese Ziffern den sogleich für Österreich zu nennenden gegenüber, so sehen wir, daß selbst die ungünstigsten Gegenden Deutschlands, d. h Bayern, mit 14-16 Proz. den benachbarten und vielfach übereinstimmenden deutsch-österreichischen Alpenländern gegenüber, wo die I. 20-30 Proz. beträgt, nicht unerheblich besser situiert sind. Sachsen, welches der Höhe der Illegitimitätsziffer nach dann folgt, stimmt mit Böhmen, besonders mit dessen industriellem Norden überein, und die darauf folgenden thüringischen Länder mit 11-12 Proz. stehen ziemlich auf derselben Stufe wie das industrielle Nordwest-Österreich. In den östlichen preußischen Provinzen mit ihrer um ein Weniges kleinern Ziffer von 10-11 Proz. dürfte die immerhin hohe I. dort ein Begleitumstand der Latifundien sein, wo die Industrie nicht hoch entwickelt ist. Der gleiche Umstand gilt bekanntlich für die beiden Mecklenburg, deren I. heute noch, trotz Aufhebung der Ehebeschränkungen, mit 12 -13 Proz. ziemlich hoch steht. Weit günstiger liegen dann die Verhältnisse in den westlichen Teilen des Reiches, namentlich auch Preußens, in den neuen preußischen Provinzen, ferner in Baden, Hessen, Oldenburg, dem Rheinland und in Elsaß-Lothringen. In Berlin steht die Illegitimitätsziffer mit 13-14 Proz., wenn man den Charakter der Stadt als einer Großstadt und die oben angeführten Verhältnisse der österreichischen Städte berücksichtigt, nicht gerade hoch. Auch hier stieg die Ziffer nach 1870/71 und scheint in der Gegenwart etwas zurückzuweichen.

2) Österreich-Ungarn. Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch bestimmt (§ 163ff.), daß als Vater eines unehelichen Kindes derjenige angenommen werde, von dem gerichtsordnungsmäßig bewiesen wird, daß er mit der Mutter desselben während der Zeit von 6-10 Monaten vor der Geburt in Geschlechtsgemeinschaft gestanden habe. Das uneheliche Kind wird vom Vater und in dessen Verhinderung von der Mutter erhalten und erbt gleich dem ehelichen nach der Mutter. In Ungarn wird der Beweis der Mutter über den Umgang mit dem Manne hinfällig, falls Beziehungen zu einem andern Manne nachgewiesen werden können. Die Erhaltung und das Erbrecht sind wie in Österreich geregelt. Die Ziffer steht in Cisleithanien hoch. Sie stieg seit den 30er Jahren

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 470.