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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Muskelsinn (psychologische Einteilung)
sich als wichtig für die Schärfe, vielleicht sogar für die Möglichkeit der Tonausfassung erwiesen. Daß die Objektivierung von Wahrnehmungen, z. V. das Nachaußensetzen von Farben, auf der verschwiegenen Unterstützung durch den M. beruht, unterliegt kaum einen: Zweifel, und es ist anzunehmen, daß auch die Affekte einen Teil ihrer Eigentümlichkeit den Vorgängen innerhalb der Muskeln, Gelenke, Bänder?c. entleihen. Da endlich, wie aus Zweckmäßigkeitsgründen zu erwarten ist und die Erfahrung bestätigt, jeder Bewußtseinsvorgang in Thätigkeit sich umzusetzen strebt, und zwar in Spannungen und Bewegungen, die wiederum bemerkt werden können, so übersieht man, welches gewaltige Reich der M. beherrscht, und begreift die Vorliebe der gegenwärtigen Psychologie für ihn. Trotz dieser Vorliebe ist indessen noch manches bisher unerklärt. Nachdem bereits in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts Joh. Müller u. Eh. Bell sich für die Existenz eines Muskelsinns ausgesprochen hatten, geriet er in Vergessenheit oder wurde, wie von Bernhardt und Vulpian, bestritten. Das Verdienst, sich seiner wieder angenommen zu haben, gebührt für Deutschland W. Wundt, für Frankreich I.
Charcot, für England A. Bain. An Vain schlössen sich Ch. Bastian und W. James an, an Charcot die französischen Physiologen Beaunis, Gley, Fere, Binet, an Wundt endlich die Deutschen Lewinski, G. E.
Müller, Goldscheider, Löb, Münsterberg und Schumann. Außerdem ist eine größere Anzahl jüngerer Kräfte eifrig mit der Erforschung von Einzelfragen
beschäftigt.
Psychologische Einteilung des Muskelsinns. Zunächst ist vor wortgetreuer Auffassung des Ausdrucks M. zu warnen. Weder stellt er einen einheitlichen »Sinn«, vergleichbar dem Gesichts- oder Gehörssinn, dar, noch ist er ausschließlich auf Vorgänge in den Muskeln beschränkt. Deshalb haben Bastian und Charcot die Bezeichnung Kinästhesie oder Bewegungswahrnehmung, Fere und Binet die noch schlechtere, weil noch weniger erschöpfende Bezeichnung >L6ii8 ceutii^öts ä6 inonv6M6iit« vorgeschlagen Da indessen das Wort M. einmal eingebürgert und durch ein tadelloses neues Wort fürs erste nicht zu ersetzen ist, so hält die Wissenschaft wohl mit Recht an ihm fest. Es entsteht jedoch die Aufgabe, den mit M. umgrenzten, zusammengesetzten Komplex von Empfindungen in seine Bestandteile zu zerlegen, was einmal auf Grund der psychologischen Erfahrung, zum andern mit Berücksichtigung der anatomischen Apparate, die in Frage kommen, und ihrer physiologischen Thätigkeit geschehen kann.
Die auf der innern Erfahrung sich gründende Einteilung wird selbstverständlich auch keine psychischen Elemente, sondern zusammengesetzte Zuständlichkeiten zeigen, weil nur solche sich der unmittelbaren Wahrnehmung darbieten, a) Spa n n u n g sempfin düngen. Sobald ein Muskel sich zusammenzieht und diese Kontraktion eine gewisse Stärke erreicht, erhalten wir eine »Spannungsempfindung«. Sie kann in Muskeln auftreten, die der Willkür entzogen sind, so in denen der Gebärmutter bei den Wehen oder in denen des Unterbeines beim Wadenkrampf.
Wird sie gesteigert, so empfinden wir Schmerz, dauert sie lange an, so suhlen wir Müdigkeit. Bei der faradisch-elektrischen Reizung sowie bei gewissen Krampfformen beobachten wir sie. I)) Lageempfindungen, d. h. Empfindungen, welche uns über die Stellung eines Körperteils oder des ganzen Körpers im Raume orientieren. Wir haben sie, selbst wenn Berührungen der einzelnen Glieder miteinander oder durch die
Bekleidung und andre Gegenstände nach Möglichkeit ausgeschlossen sind. Von besonderer Bedeutung ist die Aufeinanderfolge von Lageempfindungen oder die Empfindung der Lage-, bez. Ortsveründerung.
Durch sie erhalten wir die Möglichkeit, trotz Ausschlusses von Gesichtswahrnehmungen und des Drucksinnes der Haut, Gewichte abzuschätzen, durch sie die Möglichkeit, passive Bewegungen, d.h. Bewegungen, welchevon andern an unsern Körperteilen vorgenommen werden, zu fühlen. 0) Nichtungsemp findungen. Sie entstehen, sobald durch ein Sinnesurteil die Empfindungen der Lageveränderung in die vier Hauptrichtungen des Raumes (vorn, hinten, oben, unten) eingeordnet werden. In dem Erfahrungsraum bezeichnen wir als vorn befindlich die bei natürlicher Stellung deutlich gesehenen Objekte, als hinten befindlich die nach halber Achsenumdrehung des Körpers ebenso zu sehenden. Die Unterscheidung ferner von oben und unten geht auf die Verschiedenheit der Muskelempfindungen zurück, welche bei der Bewegung des Auges zum Himmel und zur Erde eintreten: das Auge muß eine verhältnismäßig schwere Bewegung ausführen, wenn die Hand in die Höhe tastet, und es hat eine sehr geringe Anstrengung zu leisten, wenn es in diejenige Richtung blickt, in welche die Körper fallen und in welcher auch unsre Füße stehen. Wir nennen demgemäß die an einem feststehenden Gegenstände ohne ausgeführte Bewegungen unserseits zu erprobenden vier Richtungswahrnehmungen mit verschiedenen Namen: Stoßen (nach vorn), Ziehen (nach hinten), Heben (nach oben), Drücken (nach unten). Das Bewußtsein der Aktivität bei allen diesen Handlungen beruht auf der Erinnerung an mehrere gleiche Erfahrungen und fällt fort, sobald wir selber der leidende Teil sind, d.h. gestoßen, gezogen, gehoben, gedrückt werden. Die Richtungsempfindungen aber bleiben in beiden Fällen unverä'idert. ä) Bewegungsempfindungen entsprechen gleichfalls einer Succession von Lageempfindungen nebst vorausgegangenen Innervationsvorstellungen, nur mit dem Unterschiede, daß hier der Ausführung kein Hindernis in den Weg tritt. Versuche ich vergeblich einen Tisch nach vorn zu stoßen, so erhalte ich eine Nichtungsempfindung mit dem Charakter der Widerstandsempfindung, gelingt mir der Versuch, so ergibt sich eine Bewegungsempfindung. 0) Tastempfindungen sind Bewegungsempfindungen, vermehrt durch die bewußte Wahrnehmung einer Berührung. Betaste ich ein Objekt, so heißt das: eine Bewegung ausführen und noch dazu durch den Drucksinn Eindrücke von außen aufnehmen. - Diese Einteilung stimmt ziemlich mit den Ergeb; issen der Experimental-Physiologie überein.
Durch Munks vivisektorische Versuche ist nämlich dargethan, wie im Falle der Wiederherstellung einer beschädigten Fühlsphäre im Gehirn erst die Druckvorstellungen, dann die Lagevorstellungen, endlich die Tast- und Vewegunqsvorstellungen wiederkehren, und wie weiter durch große Abtragungen innerhalb der Fühlsphäre die sehr zusammengesetzten Tast- und Bewegungsvorstellungen allein, durch größere Exstirpationen mit ihnen die Lagevorstellungen, endlich durch noch größere Exstirpationen auch die Druckvorstellungen für die Tauer zum Verschwinden gebracht werden.
Anatomische Einteilung des Muskelsinnes, also Einteilung auf Grund der bei den Empfindungen des Muskelsinnes in Frage kommenden anatomischen Organe, lr) Muskeln. Obgleich die herrschende Anschauung ihnen nur eine untergeord-