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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Muskelsinn (anatomische Einteilung; Pathologie)
nete Nolle zuweist, sind sie wahrscheinlich doch die Hauptquelle der genannten Wahrnehmungen', Gelenke, Haut, Sehnen bilden vielleicht bloß die Obertöne« der Wahrnehmung. Freilich, sensible Muskelnerven sind bisher noch nicht gefunden; C. Sachs hat, wie Mays neuerdings darlegt, sich getäuscht, nls er empfindungsleitende Nerven innerhalb der Muskelsubstanz nachweisen zu können glaubte. Auf die Muskeln gehen alle Spannungsempfindungen zurück: die Empfindungen im Kehlkopf, welche uns leim Singen leiten und in der Tonauffassung unterstützen, die körperlichen Einflüsse, die den Gefühlen der Lust und Unlust ihre Färbung verleihen, d) Haut.
Daß die Haut bei den in die Tastempfindung eingehenden Wahrnehmungen der Berührung die Entscheidung liefert, liegt auf der.Hand. Weniger durchsichtig ist ihre Beteiligung an den Lage-, Richtungs- und Bewegungsempfindungen. Beiden Untersuchungen von Nervenkranken mit Unempfindlichkeit der Haut haben einige Forscher gefunden, daß die ge-! nannten Empfindungen ungetrübt bleiben (Gold-! scheidet), andre, daß sie erhebliche Einbuße erleiden (Gley). c) Gelenke. Seitdem es feststeht, daß in den Gelenkkapseln sensible Nerven, und zwar mit ^ Zwei Arten von Endkörperchen aufhören, hat man! die Gelenke vielfach zur Erklärung herangezogen.! G. E. Müller und Schumann führen die Empfind-! lichkeitfür Bewegungsunterschiedeganzauf sie zurück, weil diese Wahrnehmungen hauptsächlich dann auf- ^ treten, wenn die Gelenkenden aufeinander gedrückt ^ werden oder die Gelenkflächen übereinander hin-! weggleiten. <^) Sehnen. Die Bedeutung ihrer Thä- ^ tigkeit ist am wenigsten geklärt. Goldscheider ineint, daß die Empfindung der Schwere durch die Spannungszunahme der Sehnen ausgelöst werde, was Sunkel indessen bestreitet. Eine grundlegende Wichtigkeit für den M. dürfte ihnen jedenfalls nicht
zukommen.
Innervationsempfindungen. a) Außer von den genannten Empfindungen hat man vielfach von Innervationsempfindungen gesprochen und darunter verstanden die unmittelbare Wahrnehmung des Willensimpulses, den wir einem Körperteil zu seiner Bewegung geben. Wir sollen in der Lage sein, unabhängig von allen peripherisch entstandenen Eindrücken zentral die Muskeln zu innervieren und dieses Ausströmen einer Kraft von innen nach außen als eine spontane und selbständige Empfindung aufzufassen. In diesem Sinne haben sich Helmholtz und früher auch Wundt geäußert, und von fremdländischen Forschern ist namentlich Bain für die unabhängige Wahrnehmung derartiger zentrifugal lausenden Erregungen in den Muskelneruen eingetreten.
Man machte darauf aufmerksam, daß schon bei einer bloß beabsichtigten, auch in ihren Anfängen nicht ausgeführten Bewegung ein Bewußtsein der für sie zuverwendendenseelischen Thätigkeit existiert, ein Be-wußtsein, das demnach den jeder Kontraktion vorangehenden Prozessen in der motorischen Sphäre der Großhirnrinde entsprechen müßte. Auf diese Inuervationsempsindungen beschränkte sogar Joly den Ausdruck »86H8 äs I'etkoi't«, Duchenne seine ^011-8(!i6ne6 inu8on1a.ir6«. Aber an Beweisen haben die Anhängerder Innervationsempfindungen auß^r dem Hinweis auf die erwähnte, freilich sehr bestechende Allgemeincrfahrungnureineneinzigen erbracht. Man sieht nämlich an Nervenkranken, denen die Empfindlichkeit in Haut und Muskeln verloren gegangen ist, eine leidlich erhaltene Fähigkeit zu aktiven Bewegungen, während passive Bewegungen nicht mehr wahr genommen werden. Einem solchen Patienten können bei geschlossenen Augen die Arme in beliebige Stellungen gebracht werden, ohne daß er es merkt, aber er ist im stände, willkürlich die Arme zu bewegen. Da nun die öaut- und Muskelreize fehlen und in den beiden Füllen des Bewegtwerdens und des Bewegens die Bedingungen sämtlich sich gleich bleiben, mit Ausnahme der dort fehlenden und hier vorhandenen Innervation, so scheint die Existenz von Innervationsempfindungen bewiesen. Bei n/ Herm Zusehen indessen entdeckt man, daß die anscheinend anästhetische Körperoberfläche doch noch Wahrnehmungen, wenngleich meist unbewußte, liefert, und daß zweitens Erinnerungsbilder an die Art der Bewegungen zur Zeit der Gesundheit in dem Kranken leben. Solche unbewußte Wahrnehmungen und halb bewußte Erinnerungsbilder bilden die psychische Unterlage des Bewcgungsimpulses; Innervationsempfindungen find nicht die einzige Lösung des erwähnten rätselhaften Vorganges, d) Damit kommen wir zugleich zu dem Haupteinwande, den man gegen diese Empfindungen erhoben hat. »Im Bewußtsein«, so argumentiert Z. B. Stumpf mit Necht, »finde ich den Willen zu einer bestimmten Bewegung in Verbindung mit einer Muskelvorstellung, mit dem Erinnerungsbild früherer Muskelthätigkeit, das von frühern wirklich ausgeführten Bewegungen im Gedächtnis geblieben ist. Aber ich bemerke nichts von cinerE mpfindung; ausgenommen wenn bereits ein Anfang der Bewegung, ein leises Zucken oder dergleichen erfolgte. In diesem Falle ist indessen durch den Willensausstoß und die Erregung von innen nach außen schon eine Veränderung an der Peripherie gesetzt, welche dann, von außen nach innen laufend, eine Muskel- oder Tastempfindung erzeugt hat. Der Kern der Frage steckt also darin,^ daß wir die sogen. Inncrvationsempfindungen nicht von den Erinnerungsbildern unterscheiden und, da letztere zweifellos vorhanden sind, die Annahme ersterer nicht aufrecht erhalten können. Bevor ich meinen Arm hebe, sehe ich im Geiste diese Bewegung und erinnere mich des Gefühlskomplexes, den sie bei ältern Versuchen erzeugt hatte: die Summe dieser Vorstellungen ist es, welche die Täuschung erweckt, als ob ich den Willensimpuls unmittelbar empfände.
Man kann sich in der That durch Selbstbeobachtung überzeugen, daß zwischen das Erinnerungsbild der gewollten Bewegung und die Wahrnehmung der vollzogenen Bewegung sich in unserm Bewußtsein nichts dazwischen schiebt; eben schwebte mir noch die Bewegung vor, im nächsten seelischen Augenblick ist sie bereits als Empfindung da.«
Pathologie des Muskelsinnes, a) Eine der häufigsten Störungen des Muskelsinnes stellt sich uns in dem Gefühl der Müdigkeit dar. Die Bedingungen seines Eintretens sind neuerdings experimentell von Mosso, Maggiora und Lombard untersucht worden, ohne daß es den genannten Forschern gelungen wäre, die große Anzahl von Einzelergebnissen zu einem umfassenden Resultat zu vereinigen. Jedenfalls haben die Gefühle der Frische und Abgeschlagenheit, der Spannkraft und Mattigkeit in dem Funktions- und Ernährungszustande der Muskelsubstanzihren Hauptgrund und sind erheblich verschieden von den feinster Abstufung jähigen Empfindungen, durch welche wir die Größe einer ausgeführten Bewegung oder die Stärke des ihr entgegenstehenden Widerstandes messen, d) Unabhängig von der Überanstrengung sind die bleibenden Affektionen des Muskelsinnes bei Nerven- und Geisteskranken. Manche Nückenmarksleig